Offensiver Liberalismus

Es scheint einen großen gesellschaftlichen Konsens im Westen zu geben, dass es wieder einen zu bekämpfenden Feind im Osten gibt. Wie wir uns ideologisch dort hin bewegt haben, habe ich versucht aufzuschreiben. Parallel dazu muss natürlich die neoliberale ökonomische Offensive betrachtet werden. Erst zusammengenommen ergibt sich ein vollständiges Bild.

Es ist ein langer Artikel, über den ich meine Gedanken sortiert habe. Vielleicht gibt es jemanden, der sich dafür interessiert. Es ist heute schwierig, an den Sinn kritischen Denkens und Schreibens zu glauben, wie Michael Brenner schreibt.

Teil 1

Die Geschichte …

Früher diskutierten die Damen beim Frisör die Beziehungsprobleme der Mitglieder des britischen Königshauses als fänden sie in der eigenen Familie statt. Heute analysieren Männer, Frauen und Diverse in ähnlicher Weise die Psyche Putins, des Mannes mit schillernder KGB Vergangenheit im Dienste russischer Oligarchen, der nach über 20 Jahren in höchster Machtposition plötzlich dem Größenwahn verfällt. Seine Machtkarriere möchte er damit krönen, dass er die Ukraine wieder heim ins russische Reich holt, wie auch die anderen ehemaligen Sowjet-Republiken und vielleicht sogar Warschauer-Pakt-Staaten. Der Überfall auf die Ukraine ist nur durch den unersättlichen Machthunger dieses Mannes zu erklären, einem Machthunger, der, so steht zu befürchten, dazu führen wird, dass ‚der Russe‘ bald wieder vor Berlin steht. Die Unterstützung, die Putin dabei im eigenen Land bekommt, ist durch den starken Einfluss des konservativ-reaktionären, christlich-orthodoxen, slawischen Nationalismus zu erklären, deren Anhänger sich gegen alles Moderne wehren, Homosexualität verteufeln etc. etc.

Das ist eine starke Geschichte. Aber stimmt sie auch?

Handelt es sich um pure Kreml-Astrologie oder entspricht sie den Fakten?

… ihre Folgen …

Gerade jetzt wäre es geboten, jedes Narrativ besonders kritisch zu hinterfragen, denn die Konsequenzen sind sehr real und betreffen uns alle. Die aus dieser Geschichte abgeleitete Politik erhebt es zum Gebot der Stunde, vorbehaltlos zur Ukraine (und unseren liberalen Werten) zu stehen, dafür ökonomische Opfer zu bringen und im eigenen Land jegliche Propaganda für die russische Seite konsequent zu unterbinden. Wie müssen Waffen in die Ukraine senden und selbst aufrüsten, damit wir uns gegebenenfalls gegen den Feind aus dem Osten verteidigen können. Wir müssen klare Kante gegen Putin mitsamt seinen russischen Banken und Firmen, Künstlern, Sportlern und sogar verstorbenen Schriftstellern und deren Unterstützern in Deutschland, vorwiegend den AfD-Wähler*innen zeigen, um sie nicht mit dem begangenen Unrecht durchkommen zu lassen.

Alle scheinen sich einig zu sein, dass Deutschland diesmal im Kampf gegen Russland auf der richtigen Seite der Geschichte und des Fortschritts steht, und wir es sind, die im Namen freiheitlicher Werte militant den Frieden gegen einen Aggressor verteidigen. Wir setzen den skrupellosen Profiteuren aus der Lieferung schmutziger Energie eine grüne, CO2-freie Zukunft entgegen.

… und berechtigte Zweifel.

Der ehemalige schweizer Oberst des Generalstabs Jacques Baud z.B., der selbst in der Ukraine tätig war, vertritt, durch viele Quellen untermauert, eine völlig andere Sichtweise. Der Angriff sei nicht als Aggression aus heiterem Himmel zu werten sondern als die Reaktion auf eine langjährige, von Russland aus guten Gründen als Bedrohung empfundene, Politik des Westens.

Erschrecken.

Dass diese Sicht in der emotional aufgeheizten Öffentlichkeit so gut wie keinen Raum bekommt, erschreckt mich sehr.

  • Wie wurde aus der Entspannungspolitik Willy Brandts und der Überzeugung, man könne internationale Beziehungen friedlich über gegenseitigen Respekt, Diplomatie und Verträge regeln, die Haltung, der Gegner verstehe nur die Sprache der Gewalt?
  • Wie konnte in einer Gesellschaft mit einem liberalem Selbstbild, das für unveräußerliche individuelle Menschenrechte, Vielfalt, Toleranz, Recht und Meinungsfreiheit steht, eine Atmosphäre entstehen, in der kein Widerspruch geduldet wird, und Rechtsbrüche in Form illegaler Sanktionen unhinterfragt akzeptiert werden?
  • Wie kommt es, dass nun Angehörige einer anderen Volksgemeinschaft pauschal offen diskriminiert werden können, und das Verbreiten von „Feindpropaganda“, z.B. durch Sendeverbote, unterbunden und sogar unter Strafe gestellt wird (obwohl wir uns gar nicht im Kriegszustand befinden)?
  • Wie kommt es, dass faschistische Organisationen und deren Anhänger, die vorher klar als solche gesehen wurden, verharmlost, wenn nicht sogar als Verbündete in Kauf genommen werden (Facebook änderte z.B. dafür die hate-speech Regeln)?

Änderte der Angriff Russlands auf die Ukraine alles? Warum änderten der Irak-, Libyen- und Jemenkrieg nichts? Wieso darf Saudi Arabien, wo vor kurzem 81 Menschen an einem Tag hingerichtet wurden, viele davon politische Kritiker des Regimes, Mitglied des UN-Menschenrechtsausschusses bleiben, während Russland ausgeschlossen wird?

Liberale Demokratie im Westen

Manchmal hilft es, einen Schritt zurückzutreten und die Problematik aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. In seinem Buch „The great delusion“ befasst sich John Mearsheimer mit den großen Veränderungen, die im liberalen Denken der Gegenwart zu beobachten sind. Der Liberalismus entstand unter dem Eindruck des verheerenden 30-jährigen Krieges in Europa. Die Denker dieser Zeit sahen die Menschen nicht als vorwiegend soziale Wesen sondern als Individuen, die in ihrem persönlichen Streben nach Glück, das ihnen durch ihr Menschsein an sich von Natur aus zusteht, ständig mit anderen in Konflikt geraten und sich grundsätzlich nicht über gemeinsame Werte einigen können. Die Lösung: ein Nachtwächterstaat, der durch sein Gewaltmonopol die Auseinandersetzungen in friedliche Bahnen zwingt, und durch Gewaltenteilung, die demokratische Wahl der Regierungen und sein Rechtssystem, vor dem alle Menschen gleich sind, einigermaßen gerechte und vor allem sichere Verhältnisse gewährleistet. Ansonsten sollte der Staat sich aus dem Leben der Menschen heraushalten, und es sollte gelten: ‚leben und leben lassen‘.

Was innenpolitisch durch einen starken Staat durchsetzbar war, konnte außenpolitisch nicht gelten, denn kein Nationalstaat war bereit, die entsprechende Macht an einen übernationalen Souverän abzugeben. Hier musste durch Diplomatie und Kriege immer wieder eine Machtbalance hergestellt werden, die auf der gegenseitigen Anerkennung legitimer Sicherheitsinteressen beruhte. Welche Rechtsordnung innerhalb der rivalisierenden Staaten jeweils herrschte, war dabei uninteressant.

Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion war dieses Modell in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts Realität: die liberalen Demokratien in den westlichen Industriestaaten und die sozialistischen Staaten gestalteten im ‚Kalten Krieg‘ eine Machtbalance, in die sich alle anderen Staaten einordnen mussten.

Vom liberalen zum ultraliberalen Liberalismus

Für die USA änderte der dann folgende unipolare Moment alles. Francis Fukuyama sprach vom Ende der Geschichte. Fortan würde es nur einen Hegemon geben. Dieser Hegemon konnte, so die Vorstellung, geopolitisch als Weltpolizist die Funktion übernehmen, die der Staat bisher in den einzelnen Nationalstaaten übernommen hatte.

Das liberale Modell hatte demnach gesiegt und sich als universell gültig erwiesen. Das liberale Denken schien nun eine realisierbare Vision für die ganze Welt zu sein. Daraus folgte die Mission, die entsprechenden Werte innenpolitisch und weltweit aktiv durchzusetzen. Und das änderte alles. Ich denke, dass das in den westlichen Ländern heute vorherrschende gesellschaftliche Klima mit großer Wahrscheinlichkeit damit zu tun hat, dass aus einer liberalen Vision mit Vorbildcharakter eine aktiv durchzusetzende Mission wurde.

Innenpolitisch wurde aus dem Konzept „leben und leben lassen“ zunehmend ein Konzept des social engineering mit politisch korrekter Sprache und entsprechendem Verhalten, „positiver Diskriminierung“, um bestehende Nachteile bei der Gleichstellung von Frauen oder benachteiligten sozialen Gruppen auszugleichen und dergleichen mehr. Schon hier scheiden sich die Geister daran, ob dies die richtigen Methoden sind, um unbestreitbar vorhandene soziale Ungerechtigkeiten zu beseitigen.

Außenpolitisch, so argumentierte man nun in der democratic peace theory, sei der Weltfrieden am besten dann herzustellen und zu erhalten, wenn die individuellen Menschenrechte überall auf der Welt garantiert seien, weil es nur so allen Menschen gut gehen könnte und somit die Grundlage für schwere Konflikte entfiele.

Viele Menschen, die Autorin eingeschlossen, standen all dem, was am besten in John Lennons Hymne ‚Imagine‘ ausgedrückt wurde, sehr positiv gegenüber; sahen wir uns doch als Weltbürger, die sich gegen jede Ungerechtigkeit wehrten und sich nicht vorstellen konnten, dass Freiheit und individuelle Selbstverwirklichung für andere Menschen nicht an erster Stelle stehen könnten. Was lag näher als diesen auch aktiv helfen zu wollen?

Die Konsequenzen dieses Denkens wurden erst mit der Zeit deutlich, sowohl im persönlichen Leben als auch (welt-)politisch, und natürlich dachte auch keiner der Herrschenden daran, seinen Besitz aufzugeben, wie im Lied erträumt, ganz im Gegenteil.

Die ultraliberale Mission

Da aus dieser Sicht die Vision nur im Rahmen liberaler Demokratien zu verwirklichen war, ergab sich der Auftrag an den Hegemon und seine Verbündeten, diese Staatsform überall auf der Welt durchzusetzen. In Verbindung damit galt es, überall die entsprechende offene Wirtschaftsordnungzu schaffen und die wirtschaftlichen, kulturellen und militärischen supranationalen Institutionen zu entwickeln, die diese Ordnung regional oder sogar global regelten.

Nach dieser Definition ist jeder Staat, in dem keine freiheitlich-demokratische Grundordnung nach westlichem Muster herrscht, ein Unterdrückerstaat und jede Form der Einmischung dort erlaubt, wenn nicht sogar Pflicht. Es handelt sich deswegen nicht etwa um Doppelstandards, wenn sich die USA damit brüsteten, die Wahlen in Russland zu Gunsten Jelzins beeinflusst zu haben und später die angebliche Einmischung Russlands in die US-Wahlen als Bedrohung und Skandal empfanden. Das Eingreifen Viktoria Nulands in die Regierungsbildung und Vizepräsident Bidens in die Regierungsgeschäfte der Ukraine war völlig O.K., und die Ukraine hat auch jedes Recht, sich ohne Rücksicht auf Russlands Bedenken der Nato anzuschließen. Schließlich haben die russischen und ukrainischen Menschen ein Recht auf Schutz und Befreiung und somit der Westen die Pflicht, gegen den Autokraten Putin vorzugehen. Die entsprechende Strategie ist kein Geheimnis und so ist es ganz und gar nicht als Ausrutscher eines alten Mannes abzutun, dass Biden nun als Präsident bei seinem Polenbesuch die Entmachtung Putins forderte.

Gleichzeitig muss man sich ständig gegen die Stärkung der anti-liberalen Kräfte im eigenen Land schützen – ein weiterer Grund für den Kampf gegen die „Autokraten“ dieser Welt und ein Klima im Inneren, in dem jede abweichende Meinung als Desinformation gebrandmarkt wird, die öffentlich möglichst wenig in Erscheinung treten soll. Trump und die AfD, LePen, Urban und Bolsenaro sind im jeweils eigenen Land die Verbündeten Putins, die, so wird behauptet, für starke Nationalstaaten mit reaktionären, autoritären Regimes im Inneren und imperiale Gelüste nach außen stehen, also genau das anstreben, was es durch liberale Politik zu verhindern gilt.

Dieser – offensive – Liberalismus schreckt jedoch selbst keineswegs davor zurück, notfalls militärische Mittel einzusetzen, wie wir spätestens seit der Bombardierung Belgrads wissen, die nach den Worten des grünen Außenministers Joschka Fischer sein musste, um ein neues Auschwitz zu verhindern. Das zu erwartende Glück der Vielen in der Zukunft rechtfertigt die Opfer der Gegenwart, im Irak, in Afghanistan, Libyen und anderswo. Der Zweck heiligt die Mittel, wie der russische Journalist Dmitry Babich in einem Vortrag aus dem Jahr 2018 ausführt. Darin prägte er für diese Ideologie (die Mearsheimer als „Progressiven Liberalismus“ bezeichnet) den Begriff Ultraliberalismus und schildert, wie vollkommen unverständlich es nach der Wende für die russische und ukrainische Seite gewesen sei, dass es dem Westen nicht nur um gute wirtschaftliche Beziehungen sondern – bis hin zur Todesdrohung gegen den ukrainischen Wiktor Janukowytsch 2014 – um die vollständige ideologische und institutionelle Unterwerfung gegangen sei.

Teil 2

Die Mission wird scheitern

Nach Auffassung von John Mearsheimer provoziert das liberale Projekt heftige Gegenreaktionen und ist letzten Endes zwangsläufig zum Scheitern verurteilt, wie der Angriff Russlands auf die Ukraine zeige. Dafür gibt es drei Hauptgründe.

Social engineering …

1. Der progressive Liberalismus setzt auf social-engineering Projekte. Diese seien schon im eigenen Land sehr schwer durchzusetzen, erst recht gelte dies aber für nation-building in Ländern, mit deren Kultur und Sprache man nur marginal vertraut sei. Dies sei, so Mearsheimer, bisher nur in Ländern wie Deutschland gelungen, die schon entsprechende Traditionen vorweisen konnten.

Ich möchte hier nur an den Abzug aus Afghanistan erinnern, der aufrichtig von vielen Links-Liberalen deswegen bedauert wurde, weil man damit die Frauen dort im Stich gelassen habe. Tatsache ist aber, dass schon in den 1970ern die ehrgeizigen kommunistischen Afghanen mit ihrem Modernisierungsprojekt am Widerstand der traditionell eingestellten – männlichen und weiblichen – Landbevölkerung scheiterten.

Die Widersprüche der innenpolitischen social-engineering Versuche, die Mearsheimer in seinem Vortrag nur mit einem Lächeln andeutet, sind für uns alle Realiät, seien es nun sprachliche Verrenkungen oder der neueste Streit unter Feministinnen, ob Transgender-Frauen Frauen sind oder nicht.

… und rechtspopulistischer Widerstand.

Widerstand dagegen regt sich vornehmlich aus rechtspopulistischen Kreisen. Von liberaler Seite aus gilt der Rechtspopulismus u.a. deswegen als große Gefahr, die den Fortbestand unserer Demokratie gefährdet. Ich halte das für eine sehr leichtfertige Einstufung. Ist eine konservative Weltanschauung tatsächlich die Vorstufe zum Faschismus so wie Marihuana als Einstiegsdroge für harten Drogenkonsum gilt? Letzteres ist umstritten, wenn nicht sogar widerlegt, stimmt Ersteres? So verachtenswert politisch unkorrekte Witze, Alltagsrassismus, Einwanderungskritik, traditionelle Rollenvorstellungen und Unbehagen gegenüber Homosexualität uns erscheinen mögen, ergeben sich daraus automatisch Diktatur, Militarismus, Rassenhass und Genozid, sobald diese Gruppen mächtig genug sind? Muss man da nicht historisch-konkret viel genauer hinschauen?

Widersprüche im Linksliberalismus …

Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg gibt es da viele Widersprüche: Viele Liberale beurteilen den Rechtspopulismus von Putin, Modi und Trump und Urban als weltweite Gefahr, der sich die Ukraine, angeführt von dem Juden *elensky (*Buchstabe verboten), heroisch entgegenstellt, und die deswegen unsere volle Unterstützung verdient.

Aber der ukrainische Präsident ist keineswegs der edle Verteidiger demokratischer Werte und Menschenrechte (wie die USA selbst bestätigen), als der er sich stilisiert.

  • Wie kommt es, dass wir unkritisch ein Land unterstützen, in dem oppositionelle Parteien und Medien verboten sind und politische Abweichler um ihr Leben fürchten müssen?
  • Wie ist es zu erklären, dass ein jüdischer Präsident am 1. Dezember 2021 in der Werchowna Rada die höchste staatliche Auszeichnung des Landes, den „Helden der Ukraine“, an den Kommandeur der Einheit des Rechten Sektors, Dmitro Kotsyubailo verlieh, dessen Gründer Dmytro Jarosh seinerseits gedroht hatte, ihn zu erhängen?
  • Wie kommt es, dass der jüdische Oligarch Kolomoisky die offen faschistischen Azov-Brigaden finanziert?

Der große Einfluss dieser und anderer, sich auf die Tradition des Judenvernichters Bandera berufenden, ultra-nationalen Gruppierungen in Politik, Gesellschaft und Militär der Ukraine wird in liberalen Kreisen heruntergespielt, obwohl er zur Genüge dokumentiert ist.

Der durch OECD-Beobachter dokumentierte Dauerbeschuss,dem sich die ethnisch russische Bevölkerung in den abtrünnigen Provinzen des Donbass in den letzten acht Jahren ausgesetzt sah, der ungefähr 13.000 Todesopfer forderte und durch Umsetzung des Minsk-II-Abkommens hätte beendet werden können, wird nicht gesehen.

Vom Missbrauch der Zivilbevölkerung als menschliche Schutzschilde im jetzigen Krieg erfährt man im Westen wenig, wenn, gibt es Grausamkeiten laut westlicher Berichterstattung nur von russischer Seite aus. Vor jeder unabhängigen forensischen Untersuchung (in jedem Fernsehkrimi eine Selbstverständlichkeit) wurden nun wegen des Vorwurfs des Genozids, lediglich auf Basis von in den sozialen Medien veröffentlichten Videos, weitere Sanktionen gegen Russland ausgesprochen.

… neonazi-kritische Rechtspopulisten …

Demgegenüber vertreten russische und westliche Konservative mit von mir keineswegs geteilten Ansichten über Frauen, Homosexuelle, Corona und Klimawandel konsequent anti-faschistische-Positionen und verstehen und unterstützen vorbehaltlos eines der wichtigsten von Russland benannten Kriegsziele, die Entnazifizierung der Ukraine.

… und eine russische Sicht.

Der schon im ersten Teil erwähnte russische Journalist Dimitri Babich geht noch weiter. Er sieht die größte Gefahr heute nicht im Rechtspopulismus sondern im, die Souveränität seines Landes bedrohenden, Ultraliberalismus. Der Liberalismus sei „eine der wichtigsten Ideologien, die den Nationalsozialismus besiegt“ hätten, aber diese extreme Form sei etwas ganz anderes. Angesichts der jetzigen Lage sei die klassische links-rechts Unterscheidung obsolet, sondern „dies [ist] genau die gleiche Situation […] wie 1941, in der wir entweder gemeinsam gegen diese neue totalitäre Ideologie vorgehen, oder diese uns vernichtet.“ Es komme darauf an, ein möglichst breites Bündnis zu schmieden; so fordere die AfD z.B.

„die NATO zu einer reinen Verteidigungsorganisation zu machen, […] die Beziehungen zu Russland zu verbessern, die Stationierung von NATO-Truppen an den Grenzen Russlands zu stoppen […]. Sollte ich sie also hassen, nur weil sie angeblich rechts sind und mein Herz, das muss ich gestehen, eher links ist?“

[Übersetzung vom automatischen Skript d.V.]

Verwirrung

So zu denken, wäre hierzulande ein absoluter Tabubruch. Hier begegnen uns Schlagzeilen wie „Die AFD verbreitet überall Putins Propaganda“. Aber wo ist – jenseits aller Zweckbündnisse – die gemeinwohlorientierte (links-realistische?) Alternative zum Rechtspopulismus, die sich diesem Ultraliberalismus entgegenstellt?

Nationalismus

2. Auch die best gemeinten Versuche, anderen Staaten eine Gesellschaftsordnung auf zu oktroyieren, scheitern an der großen Kraft des Nationalismus.

Mearsheimer könnte mit seiner These recht haben, dass die liberale Grundannahme, nach der die Menschen in erster Linie als Individuen zu sehen sind, nicht stimmt. Menschen scheinen eher soziale Wesen und Stammestiere zu sein, die in Verbänden sozialisiert werden, und mit diesen Gefährten nach eigenen Regeln sicher zusammenleben wollen. Das sei die Erklärung für die weltweit überwältigende Kraft des Nationalismus als einigendem Faktor in den jeweiligen Staaten und deren Bestreben nach nationaler Souveränität. Aus diesem Grund stehe nicht zu befürchten, dass einfach eine andere Macht die Weltherrschaft übernehmen könnte, wenn die eine sich zurückziehe. Alle Versuche, anderen Staaten ein fremdes Lebensmodell überzustülpen, müssen über kurz oder lang an nationalen Widerständen scheitern.

Kann die Entnazifizierung der Ukraine gelingen?

Vermutlich wird das auch Russland in der Ukraine erfahren. Ob nach diesem vermeidbaren, vom humanitären Standpunkt aus zutiefst zu verabscheuenden Bruderkrieg und angesichts der nun seit Jahrzehnten gepflegten anti-russischen nationalen Identität der Ukraine, die Verwandlung des Landes in einen entmilitarisierten, entnazifizierten, neutralen Staat, gelingen kann, wird sich zeigen.

Ultraliberalismus ist imperialistischer Nationalismus …

Wie Mearsheimer anmerkt, ist zudem auch der aus der Definition der USA als exceptional nation abgeleitete universell gültige Liberalismus im Grunde selbst eine von Grund auf nationalistische Vorstellung, die mich an den Spruch „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ erinnert.

… auch in Deutschland?

Bricht mit der fast einhellige Befürwortung von Waffenlieferungen in die Ukraine und militärischer Aufrüstung in der aktuellen Situation der – 75 Jahre lang durch deutsche Schuld und die empfundene Demütigung der Niederlage – unterdrückte deutsche Nationalismus wieder durch, diesmal ‚erlaubt‘ auf der Seite des Guten? Bin ich, die Tochter eines Mannes, der fünf Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft verbrachte, die einzige, die ein ungutes Gefühl damit hat, dass sich dieser neu erweckte Nationalismus wieder gegen einen als Bösewicht ausgemachten Gegner richtet, und dass dieser Gegner wieder Russland heißt? Der Spiegel berichtete unter dem Titel „Botschafter Melnyk – »Uns kann es nicht darum gehen, zwischen bösen Russen und guten Russen zu unterscheiden“. Es gab keinen Aufschrei der Empörung. Man stelle sich vor, was geschehen würde ersetzte man das Wort Russe durch das Wort Jude.

Die von Putin immer wieder geäußerten sicherheitspolitischen Besorgnisse werden als vorgeschobene Gründe angesehen, stattdessen setzt man sich mit seiner Psyche auseinander. Die Fakten sehen anders aus, wie Noam Chomsky erklärt. Wie jetzt bekannt wurde, bat Scholz vor dem Krieg Zelensky persönlich um den Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft, doch dieser lehnte ab. Warum garantierte die deutsche Regierung nicht öffentlich und schriftlich, dass sie gegen eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ihr Veto einlegen würde? Das wäre ein großer Schritt zur Vermeidung des Krieges gewesen.

Blick in den Spiegel

3. Der Anspruch des liberalen Universalismus und die davon abgeleitete Politik fällt auf den Impulsgeber zurück. Das verändert dessen Gesellschaft bis zur Unkenntlichkeit. Er widerspricht der Ausgangsprämisse des Liberalismus, dass die Individuen sich grundsätzlich nicht einig sein können, und eine Gesellschaftsordnung das berücksichtigen muss.

Dazu einige Blitzlichter:

  • Beim Angriff auf die Ukraine beruft sich Russland auf das ursprünglich von den USA entwickelte Konzept des Präventivangriffs.

  • Die unangenehmen Gesellen, die man zum Kampf gegen Gegner aufgebaut hat, wenden sich in Form von Terrorangriffen gegen einen selbst.

  • Kritisieren westliche Politiker und Journalisten die Angriffe auf die Pressefreiheit in China, Aserbaidschan oder anderswo, knallt man ihnen als Beweis für fehlende Pressefreiheit im eigenen Land den Fall Assange um die Ohren.

  • Sanktionen führen zur Wirtschaftskrise im eigenen Land.

  • Statt eines toleranten und freundlichen Klimas im Umgang miteinander und kontroversen Diskussionen in gegenseitigem Respekt, kanzelt man politische Gegner ab und erteilt ihnen Rede- und sogar Berufsverbot. Das führt zu tiefen Spaltungen in der Gesellschaft, wie man nicht nur in den USA sehen kann.

Selektive menschliche Empathie ist an der Tagesordnung:

  • Den Menschen in der Ukraine gilt unser ganzes Mitgefühl, nicht jedoch den sich als russisch verstehenden Menschen im Donbass.

  • Der deutsche Kanzler Olaf Scholz bezeichnet die Genozidvorwürfe des Landes als lächerlich, das im Kampf gegen den, nicht nur gegen Juden sondern auch gegen Slawen gerichteten,rassistischen deutschen Faschismus die größten Opfer bringen musste.

  • Die Feministin Hillary Clinton bejubelt stolz den Lynchmord an Gaddafi.

  • Julian Assanges Frau Stella Morris wird in einer Form gemaßregelt, die sich durch nichts vom Umgang mit ledigen Müttern vor 100 Jahren unterscheidet: Wenn sie sich beklage, dass ihr Mann nicht bei ihr und den Kindern sein könne, so sei sie selber schuld. Wieso habe sie sich überhaupt mit so jemandem eingelassen?

  • Und eine linksliberale Antirassistin ist völlig aufgelöst darüber, dass jetzt auch Europäer und nicht nur Syrer unter kriegerischer Gewalt leiden müssen.

Kein schönes Gesicht, das uns da im Spiegel begegnet.

2 Gedanken zu „Offensiver Liberalismus

  • Meine vorsichtige Frage, die ich wegen des rechtspopulistischen Widerstands gegen den Ultraliberalismus und die neoliberale Globalisierung stelle, beantwortet Diana Johnston in ihrem Artikel zu den Wahlen in Frankreich so:
    Es wird sich nie was ändern, wenn rechter und linker Widerstand sich nicht zusammen finden. Ähnlich äußerte sich auch Mercouris in seiner Wahlanalyse.

    Diana Johnston:

    In an imaginary different context, a Mélenchon could have proposed a compromise with Le Pen, in order to defeat Macron and carry out a somewhat more social program.

    Since the two largely agreed on the crucial issue of foreign policy — in particular, avoiding war with Russia — it might be possible to work out some sort of “Gaullist” policy in common that would break the hold of the extreme center, with its unshakable loyalty to the Atlantic Alliance. This would not have led to “confiscation of power” but would shake things up. It would be reintroducing alternance into political life.

    But in reality as it is, Mélenchon gave the election to Macron. And now he aspires to lead the opposition to Macron. But so do Marine Le Pen… and Eric Zemmour.

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