Das „intellektuelle und affektive ‚Betriebssystem‘ der Linken“

Peter Wahl bezeichnet sein kürzlich erschienenes Buch „Der Krieg und die Linken“ als Flugschrift, mit der er zum Verständnis des „intellektuellen und affektiven ‚Betriebssystems‘ der Linken“ beitragen möchte.

Zum Verteilen vor der Mensa ist Peter Wahls Flugschrift definitiv zu lang. Für ein Buch jedoch ist es ziemlich kurz, und komplexe Sachverhalte und Argumentationslinien werden darin kurz und knapp auf den Punkt gebracht. Das allein ist schon ein Grund, das Buch zu lesen.

Der Zweck einer Flugschrift ist es, möglichst viele Menschen von einem politischen Anliegen zu überzeugen, zumindest aber ihr Interesse zu wecken, sich genauer damit auseinanderzusetzen. Dieses Anliegen wird abgeleitet aus der Darstellung eines Problems und der komprimierten Analyse seiner Ursachen und möglicher Lösungswege. Was also ist das Anliegen des Autors? Der letzte Satz des Buches könnte klarer nicht sein:

„Auch wenn uns, um noch einmal Brecht zu zitieren, ‚die Worte bereits wie Asche in unserem Mund sind‘: Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“

Es sei an der Zeit „wieder intellektuelle Gegenmacht gegen Bellizismus und Krieg aufzubauen“.

Peter Wahl bedauert, dass die gesellschaftliche Linke (verstanden als diejenigen, die die soziale Frage in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen und tendenziell kapitalismuskritisch eingestellt sind) in der Bewertung des Ukraine-Krieges zersplittert ist,
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Antiimperialismus im Ukraine-Krieg

Der australische Journalist Renfrey Clarke lebte in den 1990er Jahren in Moskau und schrieb darüber für „Green Left Weekly“ in Sydney. Letztes Jahr veröffentlichte er das Buch The Catastrophe of Ukrainian Capitalism: How Privatisation Dispossessed & Impoverished the Ukrainian People.

Die Journalistin Natylie Baldwin führte mit ihm ein Email-Interview über den tiefen Fall der Ukraine von einem weit entwickelten Industriestaat zu Sowjet-Zeiten zu einem rückständigen tief verschuldeten Land. Das Interview und – sicher auch – das Buch sind sehr zu empfehlen.

Im Interview fragt Baldwin auch, warum die Linke, die in der Anti-Globalisierungsbewegung solche Entwicklungen erkannte und mit Recht vehement kritisierte, in Bezug auf die Ukraine-Frage voll im Einklang mit dem liberalen Mainstream zu sein scheint. Darauf gibt der Autor die folgende Antwort (Übersetzung von mir und DeepL):

Meiner Ansicht nach ist es den meisten Teilen der westlichen Linken nicht gelungen, eine angemessene Antwort auf den Krieg in der Ukraine zu finden. Grundsätzlich sehe ich die Wurzeln des Problems in der Anpassung an liberale Haltungen und Denkgewohnheiten und in dem Versäumnis, eine ganze Generation von Aktivisten in den unverwechselbaren Traditionen, einschließlich der intellektuellen Traditionen, der Klassenkampfbewegung zu schulen.
Vielen Mitgliedern der Linken fehlt heute einfach das methodische Rüstzeug, um die Ukraine-Frage zu verstehen – die, um ehrlich zu sein, teuflisch komplex ist. Hier möchte ich zwei Punkte anführen. Erstens ist es für die Linke von entscheidender Bedeutung, eine klare Vorstellung davon zu bekommen, ob das heutige Russland eine imperialistische Macht ist oder nicht. Zweitens sollte sich die Linke bei der Beantwortung dieser Frage auf keinen Fall auf die Denkweise von The Guardian und The Washington Post verlassen. Unsere Methodik muss aus der Tradition linker Denker wie Luxemburg, Lenin, Bucharin und Lukács kommen. Weiterlesen

Le Pen und unser Weltbild – Vorschlag für eine Debatte

Wer debattiert mit?

Diana Johnstone schrieb:

„In einem imaginären anderen Kontext hätte ein Mélenchon einen Kompromiss mit Le Pen vorschlagen können, um Macron zu besiegen und ein etwas sozialeres Programm zu verwirklichen. Da sich die beiden in der entscheidenden Frage der Außenpolitik – insbesondere der Vermeidung eines Krieges mit Russland – weitgehend einig waren, wäre es vielleicht möglich gewesen, gemeinsam eine Art „gaullistische“ Politik auszuarbeiten, die den Einfluss der extremen Mitte mit ihrer unerschütterlichen Loyalität zum Atlantischen Bündnis brechen würde. Dies würde nicht zu einer „Enteignung der Macht“ führen, sondern lediglich die Dinge aufrütteln. Es wäre die Wiedereinführung von Alternativen ins politischen Leben. Aber in Wirklichkeit hat Mélenchon die Wahl an Macron abgegeben. Und jetzt will er die Opposition gegen Macron anführen. Aber das tun auch Marine Le Pen und Eric Zemmour.“ (Übers. d. V.)

 

Zu einem evtl. Bündnis zwischen Mélanchon und Le Pen folgen nun Statements*

des linksliberalen,             des sozialistischen und          des anti-imperialistischen Lagers:

                  

*Die Statements sind aus meiner Kenntnis der aktuellen Debatten zusammengestellt. Vermutlich werden sie nirgends in dieser Reinkultur vertreten. Und insofern wird fast jede/r irgendeine Mischung dieser Thesen vertreten. Deswegen muss man ja darüber diskutieren. Über die Plausibilität der jeweiligen Aussagen genauso über die Stimmigkeit des Gesamtbildes.Die Bilder sind einfach nur zum Aufpeppen da.

 

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Zum Ausstieg des Linksbündnisses aus der Marburger Regierungskoalition

Zur konkreten Manifestation eines Grundsatzdilemmas, oder: Wie man sich politisch entmachtet und noch gut dabei fühlt.

Gott schenke mir den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, die Gelassenheit, die Dinge zu ertragen, die ich nicht ändern kann und die Weisheit, beides von einander zu unterscheiden.“ (Motto der anonymen Alkoholiker). Ich wünsche mir zusätzlich die Gnade, in meinem Leben nicht allzu viele Dinge tun zu müssen, die meine wichtigsten Werte verletzen.

Kaum war die Marburger Linksfraktion als Teil von Marburgs Regierungskoalition im Amt, kam sie in die schwerste Situation, in die ein/e Politiker*in mit Grundsätzen kommen kann: trage ich einen Beschluss mit, der gegen meine Grundprinzipien verstößt, um im Amt zu bleiben? Und so wurde nach 12 Tagen die Koalition aufgekündigt.

Die Frage, ob ich Gewerbesteuerkürzungen für eine multinational agierende Pharmafirma mittragen kann, wäre in meiner Jugend für mich ein ‚No-Brainer‘ gewesen: selbstverständlich nicht. Als anti-kapitalistische Linke kann ich doch so etwas nicht unterstützen! Weiterlesen

Die Linke, Ökonomie und die MMT (Marx, MMT und linke Strategie – 1)

Der Artikel erschien am 16. November 2021 bei Makroskop

Warum ein Katalog guter Forderungen, moralische Argumentation, Identitätspolitik und abstrakte Systemkritik kein Ersatz sind für ein fundiertes ökonomisches Konzept.

Ohne Ökonomie geht nichts. Linke streiten für gute Arbeit, bezahlbare Wohnungen, eine intakte Umwelt, sichere Renten, gute Bildung und ein funktionierendes Gesundheitssystem für alle. Aber beim Thema Geld ist dann Schluss. In der Regel ist nichts da. Und wer diese Forderungen stellt, muss sich ständig mit dem Vorwurf auseinandersetzen, man wolle mit vollen Händen das sauer verdiente Geld anderer Leute ausgeben.

Da kommt die Modern Monetary Theory (MMT) ins Spiel.

Der MMT zufolge haben „Staatsschulden“ eine völlig andere Qualität als die Schulden eines Betriebes oder Haushalts. Ein Staat mit eigener Währung setzt als Souverän das Geld überhaupt erst einmal in die Welt. Während alle anderen Akteure nach dem Prinzip der schwäbischen Hausfrau wirtschaften müssen, sind deswegen die möglichen Staatsausgaben – so die MMT – in Wirklichkeit nicht durch eine bestimmte Geldmenge sondern durch die verfügbaren realen Ressourcen begrenzt.

So ergibt sich eine völlig neue Perspektive für politisches Handeln. Weiterlesen

Marx, MMT und linke Strategie

Ab heute erscheinen auf Makroskop in loser Folge Artikel von mir zum Thema der Überschrift (So ist jedenfalls der Plan, zwei Artikel sind fertig, weitere von den Umrissen her angedacht). Jeweils eine Woche nach Veröffentlichung sind sie dann hier zu lesen.

Die Idee zu meiner Artikelreihe entstand beim Lesen und Übersetzen zweier Blogbeiträge von William Mitchell mit den Titeln „(Modern) Marx and MMT part 1 and part 2“. Und nach seinem Blogtext „Marx‘ Traum rechtfertigt es nicht, das alltägliche menschliche Leid zu ignorieren“ (hier meine Übersetzung).

Für Makroskopen selbstverständlich ist, dass erfolgreiche politische Praxis und Strategie im Interesse der Bevölkerungsmehrheit (und auch eine gegen die Erderhitzung) eine tragfähige ökonomische Theorie als Grundlage braucht, und diese verständlich kommuniziert werden muss. Weiterlesen

MMT und die Revolution

Im Oxiblog erschien ein MMT-kritischer Artikel, der der MMT die Obsession mit dem Zentralbankwesen vorwirft, während sie die Klassenfrage ignoriere.

Es gehört schon viel Chuzpe dazu, eine Theorie zu kritisieren, ohne wesentliche Literatur dazu zur Kenntnis zu nehmen. (Die gibt es nur auf Englisch? Und vor lauter Nebel sehe ich auch gerade die Sonne nicht.) Und was kann wesentlicher als das MMT-Lehrbuch sein? Dort entwickeln die Autoren eine Inflationstheorie, deren Bestandteil die Klassenkämpfe sind (Vergl. MMT and Power von Bill Mitchell). Ihren Ansatz definieren sie dort so:

„Heterodoxe Wirtschaftstheorien befassen sich mit der sozialen Schöpfung und sozialen Verteilung der Ressourcen einer Gesellschaft.“

Und weiter: das Buch von Mitchell und Fazi ‚Reclaiming the State‘ handelt vom Zusammenbruch der Wohlfahrtsstaaten in den 70ern, dem Aufstieg des Neoliberalismus und der unrühmlichen Rolle, die Linke dabei teilweise gespielt haben. Im zweiten Teil des Buches entwickeln sie eine Alternative, nämlich die, den Staat zurückzufordern. Überraschung! Der zentrale Akteur in diesem Szenario ist nicht die Zentralbank. Weiterlesen

Überwindung des Kapitalismus ohne Überwindung des Globalismus?

Ausschnitt aus Thomas Fazi: Overcoming capitalism without overcoming globalism – Eine ausführliche Besprechung von Thomas Pikettys 2020 erschienenem Buch ‚Capital and Ideology‘

Beginn der Übersetzung:

Piketty möchte, dass die Linke „über den Nationalstaat hinausgeht“ – dass sie ihr Umverteilungsprogramm auf internationaler oder supranationaler Ebene ausweitet, da die Nationalstaaten seiner Meinung nach nicht in der Lage sind, die Wirtschaft in diesem neuen globalen Wettbewerb zu regulieren. Piketty wiederholt dieselbe Kritik, die Hannah Arendt Anfang der 1950er Jahre an den sozialdemokratischen Parteien übte, als sie argumentierte, dass die Regulierung der ungezügelten Kräfte der Weltwirtschaft nur durch die Entwicklung neuer transnationaler politischer Formen erfolgen könne.

Die Geschichte hat Arendt jedoch widerlegt. Weiterlesen

10 Thesen zur Klimapolitik

Nachdem wir schon einen Corona-Diskussions-Thread haben, möchte ich hier nun einen Klima-Diskussions-Thread starten und würde mich über Diskussionsbeiträge und Quellenhinweise freuen. Man könnte an unserem Beitrag sicherlich die Politik der Parteien messen.

1. Die anthropogene globale Erderhitzung ist real und bedrohlich.

Sie verändert dramatisch das Leben aller Menschen auf der Welt wirtschaftlich, ökologisch, politisch und militärisch, unabhängig von dem politischen oder wirtschaftlichen System, in dem sie leben. Sie verursacht eine Zivilisationskrise.

2. Klimapolitik muss Gerechtigkeitspolitik sein.

Die UN hat mit den 17 Nachhaltigkeitszielen formuliert, wie ein gutes Leben für alle Menschen im Einklang mit den natürlichen Lebensgrundlagen auf der Erde aussehen kann. Versuche den Planeten zu retten, ohne den auf ihm lebenden Menschen eine Perspektive zu bieten und ohne Berücksichtigung der ökologischen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur führt zu chaotischen Verhältnissen, die der Planet sicher überleben wird, aber nur ein kleiner Teil der Menschen auf ihm. Weiterlesen

Die Nachdenkseiten und Corona

Heute (6.6.21) bringen die Nachdenkseiten einen langen Artikel von „ihrem Leser“ Norbert Krause: Wie kam es zur Corona-Krise?. Er verzichtet im Unterschied zu vielen anderen Beiträgen bei den Nachdenkseiten auf Polemik, gibt aber die „zentristische“ Position von Jens Berger, Albrecht Müller und anderen ganz gut wieder. Er geht weder frontal gegen die Wissenschaft vor noch leugnet er grundsätzlich die Wirksamkeit von Maßnahmen. Aber dennoch liefert er scheinbar die argumentativen Grundlagen für die Harmlosigkeit der Krankheit (im Verhältnis zur angeblichen Pankikmache) und die Übertriebenheit der Maßnahmen, die es den Nachdenkseiten ermöglichen, bei den „Querdenkern“ anzudocken.

Ich finde, es würde sich lohnen, anhand dieses Artikels einmal möglichst präzise die Fehler und Mängel diese Analyse herauszuarbeiten und möglichst kurz und prägnant zu formulieren. Da ich mich nicht imstande sehe, dies in einem Rutsch zu tun, schlage ich vor, in den Kommentaren nach und nach die Punkte zusammenzutragen, die Formulierungen inkrementell zu verbessern und evt. in einen zusammenhängen Text zu überführen.

Ich beginne damit, einige Punkte aufzuzählen, die meines Erachtens behandelt werden müssten.

  • Krause und auch die Nachdenkseiten generell haben an keiner Stelle eine eigene kohärente Strategie für den Umgang mit der Seuche formuliert.
  • Es fehlt jede Auseinandersetzung mit Tomas Pueyo.
  • Es wird immer wieder angedeutet, dass die Schweden es besser gemacht hätten.
  • Der Blickwinkel ist provinziell. Es gibt keine weltweite Betrachtung, keine tiefen Vergleiche.
  • China wird völlig außen vor gelassen und als „autoritär“ abgestempelt. Der chinesische Erfolg (auf vielen Dimensionen!) wird ignoriert. China demonstriert sowohl die massive ungehinderte Explosion der Seuche in Wuhan (im Unterschied zu Manaus wissenschaftlich gut dokumentiert), als auch die gnadenlos erfolgreiche Eindämmung in der Folge.
  • Für die Einschätzung der Pandemie ist die weltweite Übersterblichkeit essentiell, im Verhältnis zu den jeweils getroffenen Maßnahmen.
  • Die kalte unerbittliche Relevanz der epidemiologischen Modelle wird systematisch verkannt.
  • Die Kernpunkte einer linken Gesundheitspolitik fehlen.
  • Der gnadenlos kollektive Charakter der Pandemie, wo nur kollektives (weltweites) Handeln erfolgreich sein kann, wird verkannt. Siehe zum Beispiel das dümmliche Argument, dass man Kinder und Jugendliche gar nicht groß einschränken müsste, weil der Virus für diese ohnehin harmlos wäre.