Antiimperialismus im Ukraine-Krieg

Der australische Journalist Renfrey Clarke lebte in den 1990er Jahren in Moskau und schrieb darüber für „Green Left Weekly“ in Sydney. Letztes Jahr veröffentlichte er das Buch The Catastrophe of Ukrainian Capitalism: How Privatisation Dispossessed & Impoverished the Ukrainian People.

Die Journalistin Natylie Baldwin führte mit ihm ein Email-Interview über den tiefen Fall der Ukraine von einem weit entwickelten Industriestaat zu Sowjet-Zeiten zu einem rückständigen tief verschuldeten Land. Das Interview und – sicher auch – das Buch sind sehr zu empfehlen.

Im Interview fragt Baldwin auch, warum die Linke, die in der Anti-Globalisierungsbewegung solche Entwicklungen erkannte und mit Recht vehement kritisierte, in Bezug auf die Ukraine-Frage voll im Einklang mit dem liberalen Mainstream zu sein scheint. Darauf gibt der Autor die folgende Antwort (Übersetzung von mir und DeepL):

Meiner Ansicht nach ist es den meisten Teilen der westlichen Linken nicht gelungen, eine angemessene Antwort auf den Krieg in der Ukraine zu finden. Grundsätzlich sehe ich die Wurzeln des Problems in der Anpassung an liberale Haltungen und Denkgewohnheiten und in dem Versäumnis, eine ganze Generation von Aktivisten in den unverwechselbaren Traditionen, einschließlich der intellektuellen Traditionen, der Klassenkampfbewegung zu schulen.
Vielen Mitgliedern der Linken fehlt heute einfach das methodische Rüstzeug, um die Ukraine-Frage zu verstehen – die, um ehrlich zu sein, teuflisch komplex ist. Hier möchte ich zwei Punkte anführen. Erstens ist es für die Linke von entscheidender Bedeutung, eine klare Vorstellung davon zu bekommen, ob das heutige Russland eine imperialistische Macht ist oder nicht. Zweitens sollte sich die Linke bei der Beantwortung dieser Frage auf keinen Fall auf die Denkweise von The Guardian und The Washington Post verlassen. Unsere Methodik muss aus der Tradition linker Denker wie Luxemburg, Lenin, Bucharin und Lukács kommen. Weiterlesen

Thesen zur Zeitenwende

Das sind unsere Überlegungen dazu

Ist die Menschheit wieder dort angelangt, wo sie vor gut 100 Jahren war, als große kapitalistisch-imperialistische Mächte gegen einander antraten, und Rosa Luxemburg fassungslos auf den (aus ihrer Sicht) Verrat der deutschen Sozialdemokraten reagierte, die im Reichstag den Kriegskrediten zustimmten? Weiterlesen

Sozialistische Politik heute – die antiimperialistisch-realistische Sicht

Es sollte ein Aufsatz werden, doch es wird ein Buch. Zwei Kapitel muss ich noch schreiben. Aber „as“ meinte, ich solle es schon mal unvollständig zur Diskussion stellen, was ich hiermit mit der Veröffentlichung des ersten Kapitels tue. Der Rest folgt nach und nach.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1 als pdf

1 Sozialismus: Notwendig aber bedeutungslos?

Die Menschen machen“, wie Marx einmal sagte, „ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“(MEW 8: 115) und innerhalb ihrer Grenzen. Falls jedoch die sozialistische Arbeiterbewegung wieder ihre Seele, ihre Dynamik und ihre historische Initiative zurückgewinnen sollte, dann müssen wir als Marxisten das tun, was Marx ebenfalls getan hätte: die neue Situation anzuerkennen, in der wir uns befinden, diese realistisch und konkret (und auch historisch spezifisch) analysieren, dabei auch die Gründe für das Scheitern wie für die Erfolge der Arbeiterbewegung erkunden – und nicht zu formulieren, was wir gerne getan hätten, sondern was unter diesen Umständen getan werden kann.“1

1.1 Sieg des Kapitalismus?

Wir leben in verwirrenden Zeiten.

Marxisten sind davon überzeugt, dass der Kapitalismus eine vorübergehende Wirtschafts- und Gesellschaftsform ist, die gekennzeichnet ist durch den antagonistischen Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit. Daraus ergibt sich der historische Auftrag der Arbeiterklasse, durch organisiertes politisches Handeln die Macht zu ergreifen und sozialistische Gesellschaften zu schaffen, die den Kapitalismus überwinden. In diesen Gesellschaften können sich die Grundlagen für eine neue Gesellschaftsordnung entwickeln, einer Gemeinschaft, in der die Früchte der Arbeit allen Menschen in gleicher Weise zugute kommen, und die Entfremdung der Menschen von ihrer Arbeit, der Gesellschaft, sich selbst und der Natur aufgehoben werden kann. Marxisten sind davon überzeugt, dass die Vorstellung einer solchen – kommunistischen – Gesellschaft keine unerreichbare Utopie, sondern wissenschaftlich abzuleiten ist aus der Analyse der Geschichte und Gegenwart menschlicher Entwicklung, auf der Grundlage der Produktivkraftentwicklung. Im kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem reift das neue – sozialistische – heran.2

Wer als Sozialist diese Auffassung teilt und vielleicht zeitlebens zur Überwindung des Kapitalismus beizutragen strebte, ist heute enttäuscht.

Der Kapitalismus hat weltweit gesiegt. Alle wollen Kapitalismus, Globalisierung und Auslandsinvestitionen. In vielen Gegenden der Welt sind beeindruckende Wachstumszahlen zu verzeichnen, und der Lebensstandard vieler Menschen verbesserte sich stark. Sozialismus schien lange Zeit out zu sein. Weiterlesen