Offensiver Realismus

Dieser Artikel erschien am 6.4. auf Makroskop.

Wer es sich in dieser Zeit anzumerken getraut, dass es seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion viele ‒ von den USA und ihren Verbündeten begonnene ‒ völkerrechtswidrige Sanktionen und Kriege gegeben hat und noch gibt, macht sich des Whataboutism schuldig.

In der westlichen Berichterstattung beginnt der Ukraine-Krieg am 24. Februar 2022. Grundlos und völlig unvermittelt überfiel Putin die Ukraine. Selbst jene, die den Kontext und die Vorgeschichte dieses schon lange schwelenden Konflikts kennen, sehen sich vor jeder anderen Äußerung dazu genötigt, den Angriff als „durch nichts zu rechtfertigenden völkerrechtswidrigen Akt“ zu verurteilen.

Am Ende scheiden sich die Geister nur noch daran, wie scharf die Sanktionen gegen Russland sein sollen, und ob auch Waffenlieferungen an die Ukraine gerechtfertigt sind oder nicht. Und der Botschafter von China, eines der Länder, die sich weigern, einseitig Russland zu verurteilen, wird im Interview von einer jungen Journalistin ständig rüde unterbrochen, die von ihm nur eins hören will:

„Will you tell your President to tell Putin that he has to stop now? Zelensky is sitting in a bunker!“

Sind mit der Verurteilung des Angriffskriegs Russlands alle Fragen beantwortet und alle Zweifel zerstreut? Ganz sicher nicht.
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Offensiver Liberalismus

Es scheint einen großen gesellschaftlichen Konsens im Westen zu geben, dass es wieder einen zu bekämpfenden Feind im Osten gibt. Wie wir uns ideologisch dort hin bewegt haben, habe ich versucht aufzuschreiben. Parallel dazu muss natürlich die neoliberale ökonomische Offensive betrachtet werden. Erst zusammengenommen ergibt sich ein vollständiges Bild.

Es ist ein langer Artikel, über den ich meine Gedanken sortiert habe. Vielleicht gibt es jemanden, der sich dafür interessiert. Es ist heute schwierig, an den Sinn kritischen Denkens und Schreibens zu glauben, wie Michael Brenner schreibt.

Teil 1

Die Geschichte …

Früher diskutierten die Damen beim Frisör die Beziehungsprobleme der Mitglieder des britischen Königshauses als fänden sie in der eigenen Familie statt. Heute analysieren Männer, Frauen und Diverse in ähnlicher Weise die Psyche Putins, des Mannes mit schillernder KGB Vergangenheit im Dienste russischer Oligarchen, der nach über 20 Jahren in höchster Machtposition plötzlich dem Größenwahn verfällt. Seine Machtkarriere möchte er damit krönen, dass er die Ukraine wieder heim ins russische Reich holt, wie auch die anderen ehemaligen Sowjet-Republiken und vielleicht sogar Warschauer-Pakt-Staaten. Der Überfall auf die Ukraine ist nur durch den unersättlichen Machthunger dieses Mannes zu erklären, einem Machthunger, der, so steht zu befürchten, dazu führen wird, dass ‚der Russe‘ bald wieder vor Berlin steht. Die Unterstützung, die Putin dabei im eigenen Land bekommt, ist durch den starken Einfluss des konservativ-reaktionären, christlich-orthodoxen, slawischen Nationalismus zu erklären, deren Anhänger sich gegen alles Moderne wehren, Homosexualität verteufeln etc. etc.

Das ist eine starke Geschichte. Aber stimmt sie auch? Weiterlesen

Was Noam Chomsky über den Ukraine-Konflikt denkt

Dazu erschien gestern ein Artikel im New Statesman:

Noam Chomsky: „Wir nähern uns dem gefährlichsten Punkt in der Geschichte der Menschheit“

Bei truthout.org erschien ein ausführliches Interview mit Chomsky, hier die deutsche Übersetzung.

Hier einige übersetzte Ausschnitte aus dem New-Statesmen Artikel:

Chomsky zur Verurteilung des Krieges:

„Es ist ungeheuerlich für die Ukraine“, sagte er. Wie viele Juden hat auch Chomsky eine familiäre Verbindung zu der Region: Sein Vater wurde in der heutigen Ukraine geboren und emigrierte 1913 in die USA, um dem Dienst in der zaristischen Armee zu entgehen; seine Mutter wurde in Weißrussland geboren. Chomsky, dem von Kritikern oft vorgeworfen wird, er weigere sich, jede antiwestliche Regierung zu verurteilen, verurteilte ohne Zögern die „kriminelle Aggression“ von Wladimir Putin.

Chomsky zu Putins Motiven:

„Warum hat er das getan? Es gibt zwei Arten, diese Frage zu betrachten. Die eine Möglichkeit, die im Westen in Mode ist, besteht darin, die Abgründe von Putins verdrehtem Geist auszuloten und zu versuchen, herauszufinden, was in seiner tiefen Psyche vor sich geht.
Der andere Weg wäre, die Fakten zu betrachten: Weiterlesen

Rede Lawrows am 19. März 2022

Wieder mal die Darstellung der aktuellen Situation und der Hintergründe aus russischer Sicht.

In seiner Rede schneidet Lawrow so ziemlich alle wichtigen Fragen an, die aktuell diskutiert werden.

Quelle: Foreign Minister Sergey Lavrov: Leaders of Russia management competition, Moscow, March 19, 2022  (falls schwer zu erreichen: hier als PDF)

Beginn der Übersetzung

Liebe Freunde,

ich möchte Sie begrüßen und Ihnen meinen Dank dafür aussprechen, dass Sie mich weiterhin einladen, obwohl ich den Vorsitz im Aufsichtsrat innehabe. Es ist wichtig für mich, Sie zu sehen, Ihre Fragen zu hören und zu verstehen, was Sie in dieser unruhigen Zeit beunruhigt.

Dieses Treffen findet vor dem Hintergrund der Ereignisse statt, die sich derzeit in der Ukraine abspielen. Der russische Präsident Wladimir Putin hat sich wiederholt ausführlich zu den Hintergründen dieser Krise geäußert. Ich möchte kurz wiederholen: Es geht hier nicht um die Ukraine. Dies ist das Ergebnis einer Politik, die der Westen seit Anfang der 1990er Jahre betreibt. Damals war klar, dass Russland nicht gefügig sein würde und dass es in internationalen Angelegenheiten ein Mitspracherecht haben wollte. Das liegt nicht daran, dass Russland ein ‚Bully‘ sein will. Russland hat seine Geschichte, seine Tradition, sein eigenes Verständnis von der Geschichte seiner Völker und eine Vision, wie es seine Sicherheit und seine Interessen in dieser Welt gewährleisten kann. Weiterlesen

UN-Charta Artikel 2 (4)

Ist es möglich, für Frieden in der Ukraine zu demonstrieren, ohne die Erwähnung der NATO?

Dazu Jaques Baud (der nicht gerade als ‚irgendwer‘ bezeichnet werden kann)* in seinem sehr lesenswerten Interview in Zeitgeschehen im Focus:

Kommen wir auf die militärische Intervention Russlands in der Ukraine zu sprechen. Sie bestätigten den Völkerrechtsbruch.

Ja, es ist ein eindeutiger Verstoss gegen Artikel 2(4) der Uno-Charta, der einen militärischen Angriff auf ein anderes Land untersagt. Nur unter Kapitel VII ist es dem Sicherheitsrat erlaubt, einen militärischen Angriff völkerrechtlich zu legitimieren. Insofern ist das Vorgehen Russlands ein Völkerrechtsbruch. Aber – und das darf man nicht einfach unter den Tisch kehren – die Nato als Militärbündnis, das seine ursprüngliche Intention, nämlich als reines Verteidigungsbündnis zu fungieren, spätestens 1999 verlassen hat, kreist Russland immer weiter ein.

Gibt es dazu eine völkerrechtliche Bestimmung? Weiterlesen

Pressekonferenz des russischen Außenministers am 10. März 2022

Leider ist es gerade verpönt, die russische Seite zu hören, und es wird zunehmend schwerer, das zu tun.

Deswegen folgt nun die Übersetzung des offiziellen englischen Transkripts der Pressekonferenz von Lawrow nach dem Treffen mit den türkischen und ukrainischen Außenministern, veröffentlicht vom russischen Außenministerium. Es ist ein sehr langer, aber dennoch lesenswerter Text.

Beginn der Übersetzung:

Meine Damen und Herren!

Heute hatte ich ein Treffen mit dem Außenminister der Türkei Mevlut Cavusoglu. Danach haben wir auf Initiative der Türkei ein trilaterales Treffen mit dem Außenminister der Ukraine Dmitri Kuleba abgehalten. Die Idee wurde vom Präsidenten der Republik Türkei Recep Tayyip Erdogan während eines Gesprächs mit Präsident Wladimir Putin geäußert. Wir haben diesen Vorschlag unserer türkischen Kollegen angenommen, weil wir für jegliche Kontakte zu den grundlegenden Fragen der aktuellen Ukraine-Krise und zu Fragen im Zusammenhang mit der Suche nach Auswegen aus dieser Krise stehen.

Das Einzige, was wir von Anfang an klargestellt haben, war, dass diese Kontakte einen Mehrwert haben müssen. Wir sind der Meinung, dass sie nicht dazu benutzt werden dürfen, vor allem nicht von unseren ukrainischen Kollegen, die oft versuchen, so etwas zu tun, um den wichtigsten bestehenden Verhandlungsweg zu ersetzen oder zu entwerten, der in Belarus zwischen zwei von den Präsidenten Russlands und der Ukraine gebilligten Delegationen stattfindet. Weiterlesen

Am Samstag wird demonstriert

Die Friedensbewegung verurteilt gemeinsam mit einem Großteil der Staaten der Welt den russischen Angriff auf die Ukraine.

Wer vorbehaltlos den russischen Angriff ablehnt, die sofortige Einstellung aller Kampfhandlungen fordert und dabei jede Vorgeschichte ausblendet, weil wir jetzt ‚vorbehaltlos zur Ukraine stehen müssen‘, verbaut jede Möglichkeit auf eine friedliche Lösung, die nur möglich ist, wenn die Interessen beider Seiten berücksichtigt werden, und verbündet sich u.U. auch mit den starken faschistischen Gruppierungen in der Ukraine, die unter dem Slogan ‚Slava Ukraini‘ mitdemonstrieren. (Das wäre freilich „nur“ die Duldung und nicht die aktive Unterstützung, nun ja. Das Facebook jetzt hate-speech Ausnahmen zulässt, wenn es um Russen geht, ist da schon eine andere Nummer.)

Natürlich ist es ein großer Unterschied, ob man vorbehaltlos politisch zur Ukraine steht oder vorbehaltlos Anteil am Leid der betroffenen Menschen nimmt, letzteres sollte für jeden Menschen selbstverständlich sein. Meine diesbezüglichen Vorbehalte haben nichts mit den betroffenen Menschen sondern mit der extrem selektiven Wahrnehmung des menschlichen Leids zu tun: zunächst dem in der Ukraine selbst, sehr deutlich bei Scholz‘ Bemerkungen zur Lächerlichkeit der Genozid-Vorwürfe im Donbass (siehe dazu 220223 Dagmar Henn über Genozid im Donbass). Die Indifferenz gegenüber dem Leid anderswo auf der Welt ist mir aber ebenso unerträglich und läuft m.E. auf Rassismus hinaus, wenn man auch entschuldigend anführen könnte, dass unsere Wahrnehmung stark propagandistisch beeinflusst wird.

Wer jedoch den russischen Angriff vorbehaltlos als Angriffskrieg verurteilt und die Vorgeschichte kennt, muss die Frage stellen, welche nicht-militärischen Alternativen Russland gehabt hätte, nachdem 8, streng genommen 15 Jahre lang alle diplomatischen Bemühungen gescheitert sind, während die Ukraine immer weiter aufgerüstet, die Armee durch westliche Militärberater geschult und alle Flughäfen und auch der ukrainische Flottenstützpunkt auf Nato-Standards gebracht sowie der Natobeitritt zum Verfassungsziel gemacht wurden. Weiterlesen

Die humanitäre Lage in der Ukraine aus russischer Sicht

Hier ein Link zu Gilbert Doctorows lesenswerter Artikel zur Lage der ukrainischen Flüchtlinge

Und das hat John Helmer zu berichten

Und hier der offizielle russische Lagebericht:

Treffen des Gemeinsamen Koordinierungsstabs für humanitäre Hilfe in der Ukraine (8. März 2022)
Kanal: https://t.me/mod_russia_en : Erster Beitrag Link von verschiedenen: https://t.me/mod_russia_en/73

Quelle

Beginn der Übersetzung

▪️ In Anbetracht der rapiden Verschlechterung der humanitären Lage in den Siedlungen der Ukraine, wo die Nationalisten weiterhin Tausende von Zivilisten, darunter auch Ausländer, gewaltsam festhalten, hat die russische Seite gestern trotz wiederholter Nichteinhaltung aller Vereinbarungen durch die Kiewer Behörden eine weitere Initiative zur Durchführung einer humanitären Operation ergriffen. Gleichzeitig haben wir alle Vorbereitungen für die Evakuierung von Zivilisten und ausländischen Bürgern durch sichere Korridore abgeschlossen.

Von den zehn Routen, die der ukrainischen Seite vorgeschlagen wurden – zwei von Kiew, Tschernigow, Sumy, Charkow und Mariupol – darunter eine von jeder Stadt in die Russische Föderation sowie eine durch die von den Kiewer Behörden kontrollierten Gebiete nach Polen, Moldawien und Rumänien,wurde von Kiew leider nur eine Route amtlich bestätigt – von Sumy über Poltawa weiter zur Grenze mit Polen. Weiterlesen