Sozialistische Politik heute – die antiimperialistisch-realistische Sicht

Es sollte ein Aufsatz werden, doch es wird ein Buch. Zwei Kapitel muss ich noch schreiben. Aber „as“ meinte, ich solle es schon mal unvollständig zur Diskussion stellen, was ich hiermit mit der Veröffentlichung des ersten Kapitels tue. Der Rest folgt nach und nach.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1 als pdf

1 Sozialismus: Notwendig aber bedeutungslos?

Die Menschen machen“, wie Marx einmal sagte, „ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“(MEW 8: 115) und innerhalb ihrer Grenzen. Falls jedoch die sozialistische Arbeiterbewegung wieder ihre Seele, ihre Dynamik und ihre historische Initiative zurückgewinnen sollte, dann müssen wir als Marxisten das tun, was Marx ebenfalls getan hätte: die neue Situation anzuerkennen, in der wir uns befinden, diese realistisch und konkret (und auch historisch spezifisch) analysieren, dabei auch die Gründe für das Scheitern wie für die Erfolge der Arbeiterbewegung erkunden – und nicht zu formulieren, was wir gerne getan hätten, sondern was unter diesen Umständen getan werden kann.“1

1.1 Sieg des Kapitalismus?

Wir leben in verwirrenden Zeiten.

Marxisten sind davon überzeugt, dass der Kapitalismus eine vorübergehende Wirtschafts- und Gesellschaftsform ist, die gekennzeichnet ist durch den antagonistischen Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit. Daraus ergibt sich der historische Auftrag der Arbeiterklasse, durch organisiertes politisches Handeln die Macht zu ergreifen und sozialistische Gesellschaften zu schaffen, die den Kapitalismus überwinden. In diesen Gesellschaften können sich die Grundlagen für eine neue Gesellschaftsordnung entwickeln, einer Gemeinschaft, in der die Früchte der Arbeit allen Menschen in gleicher Weise zugute kommen, und die Entfremdung der Menschen von ihrer Arbeit, der Gesellschaft, sich selbst und der Natur aufgehoben werden kann. Marxisten sind davon überzeugt, dass die Vorstellung einer solchen – kommunistischen – Gesellschaft keine unerreichbare Utopie, sondern wissenschaftlich abzuleiten ist aus der Analyse der Geschichte und Gegenwart menschlicher Entwicklung, auf der Grundlage der Produktivkraftentwicklung. Im kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem reift das neue – sozialistische – heran.2

Wer als Sozialist diese Auffassung teilt und vielleicht zeitlebens zur Überwindung des Kapitalismus beizutragen strebte, ist heute enttäuscht.

Der Kapitalismus hat weltweit gesiegt. Alle wollen Kapitalismus, Globalisierung und Auslandsinvestitionen. In vielen Gegenden der Welt sind beeindruckende Wachstumszahlen zu verzeichnen, und der Lebensstandard vieler Menschen verbesserte sich stark. Sozialismus schien lange Zeit out zu sein.

Gleichzeitig befindet sich der Kapitalismus fraglos in einer schweren Krise, die immer offensichtlicher wird. Stagnation in den Metropolen, heute eine drohende weltweite Rezession, die extrem ungleiche Verteilung des Reichtums, soziales Elend in Metropolen und Peripherie, Aufrüstung, drohende bewaffnete Konflikte und Krieg, die Unfähigkeit zur Lösung der Klimakrise. Ist der Sozialismus heute nicht notwendiger denn je? Und heißt es nicht sogar in den USA „socialism is back?

Dennoch ist eine starke, gut organisierte Arbeiterbewegung, die strategisch und taktisch als ernstzunehmende antikapitalistische Kraft auftreten kann, nicht vorhanden, wenngleich es überall auf der Welt Bewegungen, Proteste und Unruhen gibt.3 Viele davon sind spektakulär aber kurzlebig, wie z.B. occupy oder die Bewegung der französischen Gelbwesten.4 Andere sind religiös, nationalistisch bzw. rechtspopulistisch ausgerichtet und erscheinen Sozialisten deswegen als reaktionär, wenn nicht sogar gefährlich.

Scheint der Kapitalismus als globales ökonomisches System also kaum bedroht zu sein, da es an dem notwendigen starken Antagonisten fehlt, sieht es weltpolitisch ganz anders aus, zumindest wenn man dem Weißen Haus und der NATO folgt. Denn dort geht man von einem grundlegenden Konflikt unvereinbarer politischer Systeme aus: der Auseinandersetzung zwischen Autokratien und Demokratien. Während China lt. Bidens Sicherheitsstrategie5 im Wettbewerb zu übertreffen sei, müsse das gefährliche Russland eingedämmt werden. Lt. Natostrategie 20226 stellen „autoritäre Akteure“ „unsere Interessen, unsere Werte und unsere demokratische Lebensweise infrage. Strategische Wettbewerber stellen unsere Resilienz auf die Probe und versuchen, die Offenheit, Vernetzung und Digitalisierung unserer Nationen auszunutzen,“ und sie stehen „an vorderster Front der Anstrengungen, multilaterale Normen und Institutionen vorsätzlich zu untergraben und autoritäre Regierungsmodelle zu fördern.“

Dass es sich um eine grundlegende Systemauseinandersetzung handelt, bestreitet die chinesische Führung in offiziellen Äußerungen und betont die Notwendigkeit und Möglichkeit einer harmonischen und friedlichen internationalen Koexistenz und globaler win-win Beziehungen. Gleichzeitig weist sie jedoch jeden Versuch zurück, sie unter Druck zu setzen, und ist auch nicht bereit, grundsätzlich auf militärische Mittel zu verzichten7. Die russische Staatsführung beschreibt den Konflikt hingegen eindeutig als Auseinandersetzung zwischen dem kollektiven Westen und den Protagonisten einer multipolaren Weltordnung.8

Ihren vorläufigen Höhepunkt findet diese Auseinandersetzung im Ukraine-Krieg, bei dem der kollektive Westen die Welt auffordert, eindeutig Seite zu beziehen, was die Mehrheit der Weltgemeinschaft nicht möchte.9 Und dieser Krieg scheint nur ein Vorspiel zu sein für den zu erwartenden großen Konflikt mit China um Taiwan.

In ihrer Haltung zu dieser weltpolitischen Lage tun sich, zumindest die westlichen, Sozialisten schwer; es scheint dabei nur die Wahl zwischen Pest und Cholera zu geben: Verurteilt man den Einmarsch Russlands in die Ukraine mit allen Konsequenzen (Unterstützung von Sanktionen, Waffenlieferungen …) oder die Unterdrückung des kleinen Taiwan durch das große China als völkerrechtswidrig, findet man sich auf der Seite des US-Imperialismus wieder, tut man das jedoch nicht, scheint man moralisch nicht zu rechtfertigende Rückfälle semi-imperialistischer Staaten in die völkerrechtliche Barbarei zu unterstützen.

Ist die Menschheit wieder dort angelangt, wo sie vor gut 100 Jahren war, als große kapitalistisch-imperialistische Mächte gegen einander antraten, und Rosa Luxemburg fassungslos auf den (aus ihrer Sicht) Verrat der deutschen Sozialdemokraten reagierte, die im Reichstag den Kriegskrediten zustimmten? Müssen die Soldaten überall auf der Welt nicht eigentlich das Gewehr umdrehen und sich mit den Sozialisten gegen die herrschende Kapitalistenklasse stellen, in den USA genauso wie in Russland, im Iran genauso wie in China?

So ist es aus meiner Sicht nicht. Aber was wäre heute eine sozialistische Perspektive? Was heißt es für Marxisten heute „die neue Situation anzuerkennen, in der wir uns befinden, und diese realistisch und konkret (und auch historisch spezifisch) analysieren“?

1.2 Fünf Thesen

Die folgenden Thesen dazu werde ich in den anschließenden Kapiteln ausführlich begründen.

These 1: Globalisierung als politisches Projekt

Die neoliberale Form der Globalisierung war zwar eine Antwort auf kapitalistische Widersprüche, nicht aber eine ökonomisch determinierte, unvermeidliche neue Entwicklungsstufe des Kapitalismus. Sie war vielmehr der – vorläufige – Sieg des politischen Projekts US-amerikanischer Eliten zur Erringung globaler Dominanz (und extrem überproportionaler Aneignung des weltweiten Reichtums), das nach dem 1. Weltkrieg begann. Der Ökonom Michael Hudson prägte für diese spezifische Form des Imperialismus die Begriffe Finanz- bzw. Superimperialismus.10

Dessen Sieg war gleichzeitig eine schwere Niederlage der Arbeiterbewegung, bei der der Zusammenbruch der Sowjetunion zusammenfiel mit der Deinstallation der Wohlfahrtsstaaten der Nachkriegszeit unter aktiver Mitwirkung der Sozialdemokratie, die – wie Gorbatschow11 – einer fatalen Fehleinschätzung der Situation unterlegen waren.12 13

These 2: Die Systemauseinandersetzung ist im Kern ökonomisch

Die Trennlinie in der scharfen Auseinandersetzung zwischen der – oberflächlich betrachtet – rein politischen Unterscheidung zwischen Autokratien und Demokratien ist im Kern eine ökonomische. Als „Autokratien“ bezeichnet der kollektive Westen diejenigen Staaten, die sich den Regeln der US-geführten neoliberalen Weltordnung nicht bedingungslos fügen. Im Kern heißt das, dass sie die Kontrolle über die nationalen Schlüsselindustrien und vor allem ihre Geldpolitik nicht vollständig multinationalen Konzernen, der Finanzindustrie und internationalen Institutionen überlassen möchten, und die nationale Kontrolle über diese Bereiche die notwendige Bedingung zum Erhalt ihrer politischen Souveränität ist. So unterschiedlich die Systeme dieser „widerständigen“ Staaten in gesellschafts- und wirtschaftspolitischer sowie ideologischer Hinsicht auch sein mögen: Sie alle sind bedroht durch militärische Einkreisung (Russland, China), zerstörerische Kriege (Jugoslawien, Irak, Libyen, Syrien), politische Einmischung (Bolivien), und Wirtschaftssanktionen (Iran, Venezuela, Russland).

These 3: Zur Zukunft des Kapitalismus

Kapitalismus ist deswegen nicht überall gleich Kapitalismus. In der Auseinandersetzung zwischen „Autokratien und Demokratien“ stehen sich so auch zwei kapitalistische Modelle gegenüber, die nicht miteinander zu vereinbaren sind: der Finanzkapitalismus und ein in eine öffentliche Infrastruktur eingebetteter Industriekapitalismus.14 Letzteren gibt es in vielen Formen, sei es, dass noch nicht alle industriekapitalistischen Reste beseitigt sind, wie in Deutschland, dass sich Regierungen wegen der Gefährdung ihrer nationalen Souveränität – quasi notgedrungen – zu einer solchen Wirtschaftspolitik entscheiden, wie es in Russland der Fall zu sein scheint, oder dass sie es aus grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Überzeugungen tun, wie z.B. in China. Eingebettet in globale Wirtschaftsbeziehungen ist diese Form des Kapitalismus keineswegs reaktionär, sondern erfreut sich einer außerordentlichen Dynamik, wie das Beispiel China zeigt. Und auch Russland scheint die Sanktionen weitaus besser wegzustecken als erwartet.

Die Zukunft des Industriekapitalismus kann Sozialismus heißen. Die Zukunft des Finanzkapitalismus ist Barbarei. Denn in industriekapitalistischen mixed economies besteht zwar stets die Gefahr, dass das Finanzkapital die Kontrolle übernimmt, aber auch die Chance, dass bei entsprechendem Kräfteverhältnis immer größere Teile der Wirtschaft vergesellschaftet, zumindest aber gesellschaftlich definierten Standards unterworfen werden. Unter finanzkapitalistischen Verhältnissen wäre jegliche gesellschaftliche Lösung im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung – trotz vielleicht nach westlichen Maßstäben demokratischerer Gegebenheiten – nur gegen den Widerstand des mit dem Staat verbundenen Finanzkapitals möglich, und alle evtl. noch vorhandenen öffentlichen Güter stehen unter ungeheurem Privatisierungsdruck.

These 4: Zur Zukunft der Weltordnung

Eine Weltordnung, in der alle nationalen Grenzen aufgelöst sind, regional organisierte, supranationale Institutionen, wie z.B. die EU, die Regierungsgewalt inne haben, und multinationale Konzerne und NGOs als Vertreter lokaler sozialer und umweltschützender Bewegungen sich als antagonistische Akteure gegenüberstehen, ist keineswegs eine progressive Vision. Umgekehrt kann sich beim heutigen Stand der Produktivkräfte kein Land, das prosperieren möchte, wirtschaftlich von globalen Lieferketten isolieren und von politischen und kulturellen Beziehungen abschotten.

Der Trend geht zu globalisierten Wirtschaftsbeziehungen unter nationaler Kontrolle im Rahmen regional organisierter Kooperationsverbände, wie z.B. der Shanghai Kooperation Organisation15, oder BRICS, nicht zu technokratischen Regimes wie der EU, die nationale Entscheidungsbefugnisse ersetzen.

Und im Gegensatz zur transatlantischen rules based order, nach der im Namen liberaler Werte „Koalitionen der Willigen“ die Pflicht haben, bei Bedarf auch ohne UN-Mandat „autokratische Regimes“ zu beseitigen, liegt die politische Zukunft der Welt im Aufbau einer multipolaren Weltordnung im Rahmen einer reformierten UNO, die sich orientiert an den von Zhou Enlai, dem langjährigen Ministerpräsidenten und ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas, formulierten fünf Prinzipien: gegenseitige Achtung der Souveränität und territorialen Integrität, Nichtangriff, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer, Gleichheit und gegenseitiger Nutzen in den Beziehungen sowie friedliche Koexistenz.16 17

Wer Russland wegen des Angriffs auf die Ukraine heute Völkerrechtsverletzung vorwirft, muss berücksichtigen, dass mindestens drei dieser gleichwertigen Prinzipien Russland und auch der Ukraine gegenüber schon seit Jahren verletzt wurden, und der Westen jegliche diplomatische Lösung des Konflikts verweigerte bzw. nicht ernsthaft umsetzte, wie z.B. die Minsk- Vereinbarungen.18

These 5: Die historische Initiative

Sozialisten müssen zur Kenntnis nehmen, dass die historische Initiative gegenwärtig nicht bei der Arbeiterklasse liegt, sondern bei den Akteuren, die die Kraft haben, den US-amerikanischen Hegemon zu entmachten, denn der Finanzimperialismus ist das Haupthindernis zur Lösung der drängenden Probleme unserer Zeit. Erst danach kann der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit wieder in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen treten. Erst dann ist an die Überwindung des Kapitalismus zu denken. Aber in den unterschiedlichsten Formen des Widerstands und der Entfaltung einer multipolaren Weltordnung als Alternative zum US-imperialistischen System manifestiert sich gleichzeitig die historische Notwendigkeit der Entwicklung und Umsetzung sozialistischer Vorstellungen. Dazu haben Sozialisten eine Menge beizutragen.

Die historische Initiative liegt heute international bei Russland, China und den Staaten, die sich mit ihnen verbünden, um die, sich gerade mit Macht entfaltende, neue Weltordnung gestalten. Innerhalb des imperialistischen Lagers liegt sie bei den Kräften, die es wagen, im Gegensatz zur gegenwärtigen transatlantischen politischen Ausrichtung ihrer Regierungen nationale Interessen zu formulieren, ein Konzept, welches im Westen häufig automatisch als rechtsoffen charakterisiert wird. Doch eine souveräne nationale Wirtschafts- und Außenpolitik ist zwar nicht automatisch progressiv im sozialistischen Sinne (sie könnte alle Kräfte auch auf Aufrüstung kriegerische Konflikte mit den Nachbarn konzentrieren19), beinhaltet aber, wie in Punkt 3 erläutert, Chancen für sozialistische Politik im Rahmen der Gestaltung einer nationalen Volkswirtschaft.20

Auch die Konfliktlinien in der Klimapolitik entsprechen nicht eindeutig dem Konflikt zwischen Kapital und Arbeit. Weder ist der finanzkapitalistische Trend, mit staatlicher Risikoabsicherung in vermeintlich klimafreundliche Projekte zu investieren, progressiv21, noch bedeutet die Abkoppelung von den russischen Energielieferungen, die den Lebensstandard und die Arbeitsplätze der arbeitenden Bevölkerung gefährdet, den Durchbruch für eine effektive Klimapolitik.22

Diese Situation erfordert von Sozialisten vor allem Demut und Geduld: Akzeptanz, dass ihre Gestaltungskraft momentan beschränkt ist, und sie sich in Bündnisse einordnen müssen, um überhaupt Wirkungskraft entfalten zu können, Akzeptanz, dass einige der Bündnispartner keine angenehmen Bettgenossen, sondern u.a. skrupellose Diktatoren sind23, Akzeptanz, dass es Konflikte gibt, die nur machtpolitisch, vielleicht sogar nur kriegerisch, ausgetragen werden können,24 Akzeptanz, dass unsere moralischen und gesellschaftspolitischen Werte nicht universell geteilt werden, nicht im eigenen Land und schon gar nicht weltweit, und dass für viele Menschen die Verbesserung ihrer sozialen Lage wichtiger ist als die Einhaltung von moralischen Prinzipien.

Die Vielfalt unserer Welt und ihrer Zivilisationen ist eine große Ressource und nur Prinzipien der Gleichheit, des gegenseitigen Respekts und des gegenseitigen Vertrauens können sie erhalten.

Obwohl Frieden, Entwicklung, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit gemeinsame Werte der Menschheit sind, gibt es kein universelles politisches Modell. Stattdessen muss sich die Welt in ständigem Austausch befinden, voneinander lernen und die Erfolge des Fortschritts teilen.“25

Sozialisten sollten vor allem neugierig sein auf diese verschiedenen Weltsichten, sie verstehen und von ihnen lernen wollen. Sie sollten sich darum bemühen, angesichts überwältigender Propaganda und Geschichtsrevisionismus26 fortwährend nach der Wahrheit zu suchen, diese zu formulieren und soweit es ihnen möglich ist, auch zu verbreiten. Sie sollten prüfen, ob und inwiefern ihre Überzeugungen unter den aktuellen Bedingungen relevant sind, und wie sie – aus ihrer Sicht – positiven Einfluss auf die Geschehnisse nehmen können. Sie sollten gemeinsam im Einklang mit ihrer grundsätzlichen Kapitalismuskritik eine konkrete Vision der Gesellschaft entwickeln, in der sie gerne leben würden, und diese im Rahmen der unterschiedlichen nationalen und internationalen Bewegungen, in denen sie aktiv werden, zu verbreiten und umsetzen suchen. In der Haltung zu diesen Bewegungen sollte ihnen eine anti-US-imperialistische Ausrichtung als Kompass dienen.

Die Zukunft ist keineswegs vorprogrammiert. Wie Ingenieure, die die Funktionsweise ihrer Maschinen verstehen, ihr Versagen vorhersagen oder sie zum Laufen bringen können, so können auch politische Akteure versuchen, die Entwicklungen ihrer Gesellschaften zu begreifen und zu beeinflussen, ohne ihnen blind ausgeliefert zu sein.27

Ideen werden nur dann wirksam, wenn genügend Menschen davon ergriffen werden und entsprechend handeln. Was haben Sozialisten heute zu bieten, das Menschen ergreift?


1Eric Hobsbawn, zitiert nach Deppe, Frank: Sozialismus, 2022

2Sie müssen sich dabei fragen lassen, ob sie nicht damit einem Fortschrittsglauben anhängen, nach dem die menschliche Geschichte auf ein vorbestimmtes Endziel, die angestrebte kommunistischen Gesellschaft, hinausläuft, für das sich alle „Gläubigen“ mit missionarischem Eifer einsetzen sollen. Das ähnelte dann christlichen Vorstellungen von der Rückkehr Jesu auf die Erde zum jüngsten Gericht oder der radikalen modernen liberalen Auffassung von Ende der Geschichte nach dem Sieg des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells und wäre dann eher ein religiöser als ein wissenschaftlicher Ansatz (vergl. Aurielien: Onward Post-Christian Soldiers, 2.11.2022 (Zugriff 25.1.2023)

3Hier eine interessante Analyse eines amerikanischen Sozialisten: Becker, Brian und Khalek, Rania: Reviving the Left in the Post-9/11 Era: New Movements & Constant Turmoil und Infiltration, Violence, Deportation: How the State Broke Up Socialism in US. Sehr ausführlich: Therborn, Göran: The World and the Left, 9-10/2022

4 … die gar nicht so kurzlebig zu sein scheinen. Siehe Mazaheri, Ramin: France’s Yellow Vests: Western Repression of the West’s Best Values, 2022

5The White House: National Security Strategy, 10/2022 (Zugriff 20.1.2023)

6NATO: Strategisches Konzept der NATO 2022 (Zugriff 20.1.2023)

7Global Times: China doesn’t believe ‘Thucydides Trap’; China, the US must find the right way to get along: Party Congress spokesperson, 15.10.2022 (Zugriff 25.1.2023)

8Siehe z.B. Putin, Wladimir: Speech at the Valdai International Discussion Club meeting (Zugriff 25.1.2023)

9Zum G20 Treffen siehe z.B. Khalek, Rania, Prashad, Vijai und Puryear, Eugene: Global South Rising, War-Induced Famine, Drastic Climate Shifts: Where Is the World Headed? 11/2022 (Zugriff 25.1.2023) und Lynch, Colum: The West Is With Ukraine. The Rest, Not So Much, 30.3.2022 (Zugriff 25.1.2023)

10Hudson, Michael: Superimperialism, The Economic Strategy of American Empire, editions 1968, 2003, 2021. Hier kann man beginnen, sich mit diesem wichtigen Ökonomen zu befassen: Michael Hudson. Der Patensohn Trotzkis hat nicht nur Bücher über die heutige Ökonomie geschrieben, sondern sich auch ausführlich mit antiker Wirtschaftsgeschichte befasst und für die Wall Street gearbeitet. Er war und ist weltweit beratend tätig, zurzeit hauptsächlich in China. Seine Thesen zur Unterscheidung von Finanz- und Industriekapitalismus sind eine wichtige Grundlage für diesen Text. Sein neuestes Buch konzentriert sich auf dieses Thema: Hudson, Michael: The Destiny of Civilization: Finance Capitalism, Industrial Capitalism or Socialism, 2022

11Siehe z.B. Doctorow, Gilbert: Remembering Gorbachev, 31.8.2022 (Zugriff 25.1.2023)

12Sehr ausführlich dargelegt in: Fazi, Thomas und Mitchell, William: Reclaiming the State, 2017

13Vergleiche Ausschnitt aus einer Rede des Parteichefs der KPCh Xi Jinping aus dem Jahr 2018 zur Bedeutung der Rolle des Sozialismus in China auf S. 36

14Vergl. dazu z.B. Hudson, Michael: The Destiny of Civilization: Finance Capitalism, Industrial Capitalism or Socialism, 2022

15Simon, Ulrike: Frühstück der Autokraten, 27.9.2022 (Zugriff 25.1.2023)

16Diesen, Glenn, Mercouris, Alexander und Sakwa, Richard: Collapsing European security order, 25.11.2022 (Zugriff 25.1.2023)

17Lawrence, Patrick: Zhou Enlai’s Posthumous Triumph, 28.11.2022

18Sehr gut zum Ukraine-Konflikt und dem Vergleich westlicher und russischer Ansätze am Beispiel des Zeit-Interviews mit Angela Merkel und Syriens: Mercouris, Alexander: Putin Russia to Achieve All Objectives, Lavrov Kiev Regime to Fall; Merkel Sorry No Minsk 3.0, 26.11.2022 (Zugriff 25.1.2023)

19Ein besonders interessanter Fall ist hier der türkische Präsident Erdogan, siehe: Escobar, Pepe: Operation Claw-Sword: Erdogan’s big new game in Syria, 27.11.2022 (Zugriff 25.1.2023)

20Siehe auch Streeck, Wolfgang: Zwischen Globalismus und Demokratie, 2021, der zwar nicht von sozialistischer Politik spricht, aber doch von der notwendigen „Einhegung des Kapitalismus“.

21Siehe z.B. hier: Plinke, Eckhard: Der Finanzmarkt als Retter der Welt, 3.6.2021 (Zugriff 25.1.2023)

22Simon, Ulrike: Nordstream 2 revisited. Warum Klimapolitik ohne Frieden nicht gelingen kann, 15.9.2022 (Zugriff 25.1.2023)

23… wobei George Galloway sicherlich recht hat, wenn er im Zusammenhang mit der Fußball-WM die westlichen Kritiker Katars als Heuchler entlarvt, die von den Kriegsverbrechen der und den Menschenrechtsverletzungen in den USA schweigen: Galloway, George: Talk about hypocrisy! The US has a terror camp in someone else’s country. Cuba, 12/2022 (Zugriff 25.1.2023)

24Aurelien: Don’t give peace too many chances, 30.11.2022 (Zugriff 25.1.2023)

25International Manifesto Group: Durch Pluripolarität zum Sozialismus, 9/2021 ( Zugriff 25.1.2023 – Übersetzung aus dem Englischen d.V.)

26Netschajew, Sergej J.: Absurde Faktenverdrehung, 26.11.2022 (Zugriff 25.1.2023)

27Aurelien: Politics is like engineering, sort of, 13.4.2022 (Zugriff 25.1.2023)

6 Gedanken zu „Sozialistische Politik heute – die antiimperialistisch-realistische Sicht

  • Die Thesen eröffnen natürlich ein weites Feld für marxistische oder sozialistische Theoriedebatten mit vielen Einzelthemen wie Schwäche der marxistischen Parteien, fehlendes Klassenbewusstsein, Zusammenbruch der UDSSR und des RWE, wirtschaftliche und machtpolitische Veränderungen bei Entwicklungsländer, Schwellenländer, Industrieländer, Theorien (Stamokap, Hudson, Superimperialismsus u.a.) und Studien (Piketty z.B.) zum heutigen Kapitalismus und der weltweiten Reichtums-/Armutsverteilung.

    Der Artikel unterscheidet prinzipiell zwei ökonomische Modelle: Finanzkapitalismus – Industriekapitalismus. Ich würde mehr differenzieren wollen: Neoliberaler Stamokap (G7 Länder, EU, Taiwan, Schweiz, Singapur u.a.), sozialistische Marktwirtschaft (hybrides Übergangsmodell mit KPCh, China, Kuba), Kapitalismus mit hohen Staatsbeteiligungen (Russland, Iran, Golfstaaten, u.a.), kapitalistische Schwellenländer (Lateinamerika, Indien, Pakistan), Entwicklungsländer. Die prinzipielle Aufteilung / Unterscheidung in zwei konkurrierende ökonomische Modelle: Finanz-/Industriekapitalismus finde ich inhaltlich als Gegenüberstellung problematisch wie hier auch schon mal von mir kurz ausgeführt.

    Um die heutige Schwäche der internationalen Kommunisten auf der Welt ausserhalb Chinas und Kubas zu verstehen, führe ich mir vor Augen: 1. die unaufhörliche weltweite massenhafte Verfolgung und Ermordung der Kommunisten seit Beginn des Manifestes durch den Klassengegner 2. die gewaltigen Fehler der kommunistischen Herrschaft in der UDSSR (ökonomisch und politisch wie dem GULAG) 3. die objektiven strukturellen und subjektiven kulturellen Veränderungen des immer weiter schrumpfenden Kerns der Arbeiterklasse (Industriearbeiterklasse) in den Industrieländern 4. der Neokolonialismus . Gäbe sicher noch weitere Gründe.

    Ps.
    Dieser Artikel von Jens Berger auf den Nachdenkenseiten zum Verständnis der sog. „Dollarhegemonie“ finde ich ganz interessant. https://www.nachdenkseiten.de/?p=92712

    • Vielen Dank für Dein Feedback. Du hast natürlich recht: Den Kapitalismus gibt es nicht, das ist eine meiner Grundannahmen, und das entspricht auch dem, was z.B. Keynes gesagt hat: Es gibt immer nur eine konkrete Form, in bestimmten Traditionen herausgebildet. Das Gleiche gilt für sozialistische Ökonomien.
      Das ist aber nicht der Punkt, den ich in den Thesen herausarbeiten wollte. Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt: Wenn man das kapitalistische System auf einer abstrakteren Ebene analysiert, kann man feststellen, dass sich aus der notwendigen Tendenz zur Vergesellschaftung zwei unterschiedliche Entwicklungsrichtungen ergeben können:
      Einmal die Tendenz, dass über staatliche Dienstleistungen die Produktionskosten niedrig gehalten werden und die Konkurrenzfähigkeit einer Nationalökonomie gestärkt wird. Das nennt Hudson die „industriekapitalistische“ Philosophie. Und der scheint ja China zu folgen, mit dem Ziel, immer mehr Wirtschaftsbereiche gesellschaftliche zu kontrollieren.
      Die andere Tendenz ist, dass das Kapital den Staat dazu nutzt, Profite auf Kosten der Allgemeinheit zu erwirtschaften, durch Monopole, Privatisierung gesellschaftlicher Vermögen etc. etc. Das ist auch eine Form der Vergesellschaftung, nur eben eine, die hauptsächlich den oberen 1-10% nutzt. Diese Tendenz bezeichnet Hudson als die „finanzkapitalistische“ Philosophie.
      Die heutige globale Systemauseinandersetzung ist, so behauptet Hudson, auch eine zwischen diesen beiden Philosophien. Ich finde das sehr plausibel und begründe das auch im Verlauf meines weiteren Textes (v.a. in Kapitel 6, das noch nicht geschrieben ist) genauer.
      Das die Kommunisten heute schwach sind, hat natürlich jede Menge mit deren brutaler Unterdrückung zu tun. Und auch mit Fehlern, die gemacht wurden. Aber, da beziehe ich mich auch wieder auf Hudson (das sagt aber nicht nur er), die Macht des Finanzkapitals bzw. heute des Finanzimperialismus muss gebrochen werden, ehe überhaupt eine andere ökonomische oder politische Entwicklungsrichtung möglich ist. Und um diese macht zu brechen, ist die Arbeiterklasse zu schwach. Das können nur Staaten im Verbund, in denen ein Klassenkompromiss gefunden wurde, der auf der erstgenannten Philosophie basiert. Und dieser Kompromiss sieht in jedem Staat zwangsläufig anders aus; genauso wie es auch Unterschiede in den Staaten gibt, in denen sich grundsätzlich die zweitgenannte Philosophie durchgesetzt hat.
      Und an der Stelle fängt es an, für Sozialisten interessant zu werden.

      • „Aber, da beziehe ich mich auch wieder auf Hudson (das sagt aber nicht nur er), die Macht des Finanzkapitals bzw. heute des Finanzimperialismus muss gebrochen werden, ehe überhaupt eine andere ökonomische oder politische Entwicklungsrichtung möglich ist. Und um diese macht zu brechen, ist die Arbeiterklasse zu schwach. Das können nur Staaten im Verbund, in denen ein Klassenkompromiss gefunden wurde, der auf der erstgenannten Philosophie basiert.“

        Abgesehen davon, dass ich Hudsons Begrifflichkeiten Finanz- / Industriekapitalismus so nicht teile (mit „Industriekapitalismus“ würde ich geschichtlich die ersten kapitalistischen Phasen bezeichnen), kann man sozialistische Revolutionen kaum prognostizieren. Dass gerade in Russland und China zwei kommunistische Revolutionen in zwei feudalen Agrarländern stattgefunden haben, lässt sich überhaupt nicht logisch aus der Politökonomie des Marxismus ableiten. Die Kommunisten haben eigentlich revolutionäre Veränderungen in Westeuropa erwartet, wo die Arbeiterbewegung und deren Organisationen unvergleichlich stärker gewesen sind.

        Wo möglicherweise wieder revolutionäre Situationen für Kommunisten entstehen, finde ich deshalb ziemlich offen und ich würde keine „Wenn-Dann“ Bedingung aufstellen wollen wie: Erst muss der Finanzkapitalismus gebrochen, dann… oder: „es braucht einen Klassenkompromiss“ .

        • Ja, der Begriff „Industriekapitalismus“ ist wohl etwas unglücklich gewählt. Hudson knüpft damit bewusst an das 19. Jahrhundert an, wo es Vorstellungen von einer Nationalökonomie gab, in der der Staat wichtige gesellschaftliche Funktionen übernahm, und die Rentiers entmachtet waren.
          Diese Philosophie überträgt er auf die heutige Zeit, in der bei der heutigen Produktivkraftentwicklung ein solcher „Industriekapitalismus“ natürlich ganz anders aussieht als im 19. Jahrhundert. Hudson meint im Grunde „produktiver Kapitalismus“ (Albrecht würde „Leistungsgesellschaft“ sagen) und ist der Auffassung, dass sich aus einem solchen ein sozialistisches System entwickeln kann, dass er in dieser Vergleichstabelle genauer spezifiziert.
          Die Machtfrage ist damit natürlich nicht gelöst. Wer das revolutionäre Subjekt sein könnte, auch nicht. Was die USA betrifft, ist Hudson absolut pessimistisch. Er sieht die Zukunft in China, Russland und dem Rest der Welt, die sich mit ihnen verbünden. Und das sehe ich im Grunde auch so. Aber ich bin davon überzeugt, dass die Vorstellungen von Hudson auch Menschen gefallen könnten, die mit Sozialismus, Arbeiterbewegung und Revolution nichts am Hut haben. Und deswegen möchte ich, dass auch bei uns darüber intensiv geredet wird. Darüber, was denn konkret eine sozialistische oder von mir aus auch fortschrittliche Vision wäre.

          • Ob Mitchell / Fazi heute noch so optimistisch wind, wie sie vor 5 Jahren waren, als sie das Buch „Reclaiming the State“ schrieben?
            Ihr Nationalstaat als Vehikel für einen progressiven Wandel, den sie für durchsetzbar hielten, muss 2 Grundbedingungen erfüllen:

            1. Ein Staat mit Währungssouveränität, dann ohne das geht nichts.
            2. Ein gestaltender Staat, der die Schlüsselindustrien und v.a. die Finanzindustrie kontrolliert.

    • Danke auch für den Artikel von Jens Berger. An der Dollar-Hegemonie arbeite ich mich gerade ab. Denn das ist doch viel komplizierter als ich es im ersten Versuch dargestellt habe.

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