Die Entwertung der Arbeit

Mein fünfter Artikel zu Marx, MMT und linke Strategie (zuerst veröffentlicht am 21.12.2021 bei Makroskop – Links zur allen Artikeln der Reihe siehe unten)

Gibt es eine natürliche Arbeitslosenquote oder kann der Staat bei der Reise nach Jerusalem für genügend Stühle sorgen?

Die meisten von uns haben in ihrer Kindheit und Jugend aus dem Spiel „Reise nach Jerusalem“ eine wichtige Lehre fürs Leben mitgenommen: einen Stuhl ergattert man nur bei voller Konzentration und unter Einsatz der Ellbogen. Übertragen auf die Arbeitsplätze: Uns ist allen klar, dass nicht genügen ‚Stühle‘ für alle da sind, und das die vorhandenen Stühle sich hinsichtlich ihrer Komfortabilität sehr stark unterscheiden.

Der Satz „Wer will, bekommt Arbeit“ unterstellt nicht, dass es für alle genügend Arbeitsplätze gibt, sondern dass jeder selbst für sein Schicksal verantwortlich ist. „Ein jeder ist seines Glückes Schmied“, wo ich lande, hängt von den Entscheidungen ab, die ich treffe. Ich muss selbst dafür sorgen, dass ich kein Loser bin, und dass meine Kinder auch keine werden. Der Kampf beginnt im Kindergarten, er endet bei den einen in der Konkurrenz der Chefetagen, bei den anderen mitten in Förder- und Forder-Maßnahmen der Agentur für Arbeit.

Nicht nur die Gewinner neigen dazu zu glauben, sie hätten ihr Glück selbst verdient, genauso wie die Verlierer ihr Pech. Glückliche Umstände werden kleingeredet, widrige Umstände gelten als faule Ausrede.

Während des Klassenkompromisses, moderiert in den Wohlfahrtsstaaten der Nachkriegszeit, empfand man allgemein noch keine Freude daran, ganze Bevölkerungen durch den Kampf um Arbeitsplätze unter Dauer-Stress zu setzen. In dieser Zeit strebte man an, für alle wenigstens einen Hocker bereit zu stellen, und sorgte dafür, dass diejenigen, die saßen, nicht ständig die Furcht haben mussten, man würde ihnen den Stuhl unterm Hintern wegziehen. Man verfolgte das Ziel Vollbeschäftigung. Auch aus Unternehmersicht durchaus ein Ziel, mit dem man sich anfreunden konnte – wurde doch so der soziale Frieden erhalten und die Nachfrage gestärkt.

Dabei war klar, dass die Menschen komfortablere Stühle bevorzugen und das bei guter gewerkschaftlicher Organisation und sozialer Absicherung auch erwarten können, dass bei einem ausreichenden Angebot manche Stühle sogar unbesetzt bleiben. Die Konsequenz: höhere Löhne, eine Lohn-Preis-Spirale, Inflationsgefahr. Die Verantwortlichen waren jedoch davon überzeugt, man könne zwischen Vollbeschäftigung und Inflation einen Kompromiss hinbekommen – man orientierte sich am Modell der sogenannten Phillipskurve.

Inflationsbekämpfung first, Arbeit second

Nach der Krise, die Anfang der 1970er Jahre begann, schien die Möglichkeit eines solchen Kompromisses durch die Praxis widerlegt zu sein. So kam es, dass die ökonomische Theorie des Monetarismus, der schließlich in das gegenwärtig vorherrschende makroökonomische Paradigma des Neu-Keynesianismus überging, zur Basis der politischen Entscheidungen wurde. Man vermied jetzt möglichst den Einsatz der Fiskalpolitik und gab der „Inflation-first“-Geldpolitik den Vorrang.

Es hieß nun, ein politisch erzeugter Kompromiss zwischen Vollbeschäftigung und Inflation sei grundsätzlich nicht möglich. Vielmehr erzeugten alle politischen Maßnahmen Erwartungen an die Lohn- und Preisentwicklung, die sich dann als self-fulfilling prophecy tatsächlich auch realisierten. Darüber hinaus gäbe es eine notwendige Zahl von Arbeitslosen, eine natürliche Arbeitslosenquote, bei der sich unabhängig von der Konjunktur die Lohnhöhe auf einem für die Unternehmer akzeptablen Kosten-Niveau einpendelt und somit nicht auf die Preise drückt.

Diese Quote heißt „Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment (NAIRU) oder „natural rate of unemployment“, und könne sich automatisch über den Markt einpendeln, wenn nur die Spielleiter aufhören würden, ständig Stühle hin- und herzuschieben. Anders gesagt: der Staat soll fiskalpolitisch nicht versuchen, das Arbeitslosenniveau insgesamt zu senken, das wirke inflationär, sondern lediglich alle Hindernisse beseitigen, die verhindern, dass die natürliche Rate sich auf dem niedrigst möglichen Niveau einpendeln kann. Das Gebot der Stunde heißt nun „Strukturreformen“. Denn wenn Vollbeschäftigung kein politisches Ziel mehr ist, geht es auf dem Arbeitsmarkt nur noch um strukturelle Ungleichgewichte, die es durch politische Maßnahmen zu beseitigen gilt.

Und da gibt es viel zu tun: Schwächung der Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerseite, damit nicht unverhältnismäßig hohe Löhne durchgesetzt werden; Änderung der Gesetze, die die Flexibilität der Unternehmen bei der Einstellung und Entlassung von Arbeitskräften einschränken; Kürzung von Sozialleistungen, die es Arbeitnehmern erleichtern, sich für Freizeit anstelle von Arbeit zu entscheiden; Qualifikationsmaßnahmen, die die Menschen für die jeweils freien Stellen auf dem Arbeitsmarkt fit machen.

Der neue deutsche Finanzminister Christian Lindner sieht das genauso und nennt Griechenland als Vorbild für Deutschland. Die dortigen Strukturreformen hätten Griechenland auf einen guten Weg gebracht. Was er nicht erwähnt: Zwar kommt die griechische Wirtschaft gerade wieder in Gang, doch die Industrieproduktion liegt nach dem radikalen Einbruch der Finanzkrise, den Strukturreformen und der darauffolgenden Dauerrezession immer noch um 30 Prozentpunkte unter dem Niveau von 2008, die Arbeitslosigkeit beträgt 13 % und die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 33,2 %.

Griechenland mag ein Extrembeispiel sein. Insgesamt wurde mit Einzug dieser Politik in allen Industrie-Ländern nach westlichem Muster jedoch ein hohes Maß an Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung toleriert. Das neoliberale Versprechen, dass es mit staatlicher Sparpolitik und in der neuen voll-flexiblen Arbeitswelt allen künftig besser ginge, hat sich nicht erfüllt. Zwar waren die Preise lange stabil, das Wirtschaftswachstum aber verlangsamte sich. Die Einkommensschere hat sich extrem ausgeweitet, die Reallohnentwicklung stagniert, und der Arbeitsstress hat zugenommen. An all dem hängen unzählige persönliche Schicksale.

Der Staat hat seine Funktion als Mediator eines Klassenkompromisses aufgegeben und zu aller erst die unmittelbaren Interessen der Unternehmer bedient, nachdem diese auf neue Strategien setzten, um ihre Profite und ihre Stellung zu sichern.

Eine natürliche Arbeitslosenrate existiert nicht

Das Argument, dass Inflation allen schadet und es deswegen nicht für alle komfortable Stühle geben kann und Strukturreformen notwendig sind, ziehen jedoch auch in der Bevölkerung. Jeder kennt jemanden, der sich keine Mühe gibt, vermutlich nicht arbeiten will und finanziell fast noch besser steht als Menschen, die arbeiten. Wir wissen von Unternehmern, die händeringend Personal suchen und kein gutes finden. Fast alle haben selbst Arbeit gefunden und mußten dafür Opfer bringen. Viele kommen gerade so mit ihrem hart erarbeiteten Geld über die Runden und haben Angst davor, dass alles immer teurer wird.

Ein im Dezember von der EZB veröffentlichtes Arbeitspapier erinnert nun an das Wissenschaftsparadox: Viele Phänomene sind dem Alltagsverstand nicht zugänglich und können nur über wissenschaftliche Methoden verstanden werden. Die NAIRU ist eines davon. Denn die Autoren des Arbeitspapiers kamen nach Auswertung von OECD-Daten für 29 Länder, um „die Dynamik der Arbeitslosigkeit (u) und ihre natürliche Rate (u*)“ zu untersuchen, zu dem Ergebnis, dass eine konjunkturunabhängige natürliche Arbeitslosenrate nicht existiert. Pikant dabei: sie beziehen sich unter anderem auch auf Ergebnisse aus den 1980er Jahren, die eben dies schon damals nachgewiesen hatten.

Die natürliche Arbeitslosenrate u* ist ein theoretisches Konstrukt und nicht direkt beobachtbar.
Daher muss sie anhand von Daten aus der realen Welt geschätzt werden, wobei eine Reihe von Schätztechniken zum Einsatz kommen.

Das EZB-Papier zeigt nun:

  1. Die aus realen empirischen Daten errechnete natürliche Arbeitslosenrate folgt der konjunkturellen Entwicklung, ist also nicht – wie behauptet – konjunkturunabhängig. Vielmehr haben „Schocks“ für die Gesamtnachfrage „dauerhafte Auswirkungen“. Wenn also die Wirtschaft in einen Abschwung gerät und die Arbeitslosenquote ansteigt, steigt auch die Schätzung der natürlichen Rate.
  2. Diese Effekte sind symmetrisch, was heißt: eine expansive Fiskalpolitik treibt die Arbeitslosenquote nach unten und verdrängt jeden Inflationszwang, der sich aus strukturellen Hemmnissen ergibt.
  3. Das Papier „findet starke Hinweise auf Hysterese“, verstanden als Systemverhalten, bei dem dieses – abhängig von der Vorgeschichte – bei gleicher Eingangsgröße einen von mehreren möglichen Zuständen einnehmen kann. Dieses Verhalten wird auch Pfadabhängigkeit genannt.

Übertragen auf die Arbeitslosenrate bedeutet das, dass diese in schlechten Zeiten steigt und den Aufschwung stärker und länger als erwartet bremst. Demgegenüber sinkt in guten Zeiten die Rate nicht nur, sondern dieser Effekt hält auch noch lange an und beeinflusst die Konjunktur dauerhaft positiv. Die Autoren der Studie fanden sogar Hinweise darauf, dass der letztere Effekt stärker ausgeprägt ist als der erstere.

Zu erklären ist dieser Effekt wieder einmal damit, dass Arbeitnehmer keine Kartoffeln sind. Arbeitslosigkeit vernichtet auf Dauer „Humankapital“, weil die Menschen entmutigt werden, ihre Arbeitsdisziplin verlieren, ihre vorhandenen Fähigkeiten nicht üben und, abgehängt von der Entwicklung der Arbeitswelt, keine neuen dazu lernen. Werden wieder Arbeitskräfte gebraucht, sind diese Menschen nicht einfach neu in die Betriebe integrierbar. Gleichzeitig wachsen immer neue Arbeitskräfte nach, die den Anforderungen vielleicht besser entsprechen, und so rutschen die „alten“ Arbeitslosen in der Warteschlange immer weiter nach hinten, und aus struktureller wird eine langfristige Arbeitslosigkeit.

Dieser Zustand wird an die nächste Generation weitergegeben. Für die betroffenen Menschen ist es eine Tragödie, aus Sicht eines Landes und der Gesellschaft eine ungeheure Verschwendung.

Umgekehrt fördert eine stabile Nachfragesituation die Bereitschaft der Unternehmen, selbst strukturelle Hindernisse zu beseitigen, zum Beispiel werden Trainees ohne volles Gehalt eingestellt, um diese direkt im Betrieb zu schulen. Die Wirtschaft wächst, so entsteht kein Inflationsdruck. Und mithilfe des nun aufgewerteten „Humankapitals“ kann sich der Aufschwung fortsetzen. Empirische Forschungen zeigen, dass bei Vollbeschäftigung ein genereller Zug nach oben entsteht, Spitzenarbeitskräfte können in höhere Positionen aufsteigen und machen den Weg für weniger qualifizierte frei, auch für weniger privilegierte Menschen ergeben sich nun Chancen.

Vorläufiges Fazit: Für das Wirtschaftswachstum eines Landes kommt es letztlich doch auf die Gesamtzahl der verfügbaren Arbeitsplätze an. Die „Reise-nach-Jerusalem Politik“ sollte entsorgt werden.

Aber wie? Ist eine staatliche Arbeitsplatzgarantie, wie sie die MMT vorschlägt, die Lösung? Das Konzept ist auch bei vielen der MMT nahestehenden Ökonomen umstritten.

Die Diskussion, bei der es nicht mehr nur um Ökonomie geht, sondern auch um philosophische, soziologische und psychologische Aspekte, wird uns wieder zu Marx und Engels führen, für die Arbeit nicht im Sinne ökonomischer Wertschöpfung zentral war sondern auch als Basis der Menschwerdung und des Menschseins. Sie führt uns aber auch zu der strategischen Frage, ob es möglich und erstrebenswert ist, einen Klassenkompromiss auf neuem Level zu erreichen, in dem der Staat erneut fiskalpolitische Verantwortung übernimmt und damit die Interessen beider Seiten bedient.

0. Marx, MMT und linke Strategie
1. Die Linke, Ökonomie und die MMT
2. Marx und das Geld
3. Die Geschichte von den Staatsfinanzen
4. Kapital – Arbeit – Inflation
5. Die Entwertung der Arbeit

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Du kannst diese HTML-Tags und -Attribute verwenden:

<a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>