Glenn Diesen: Die Exzesse des Liberalismus eindämmen

So ganz weiß ich auch noch nicht, was ich von dem folgenden Glenn-Diesen-Artikel halte, den ich übersetzt habe. Er wurde noch vor dem Ukraine-Krieg veröffentlicht. Mit dem Thema Konservatismus muss man sich als Linke/r auseinandersetzen, aber was wäre dazu eine linke Position? Wie dem auch sei, was er zum Liberalismus als Waffe in der Außenpolitik sagt, ist m.E. spot on.

Beginn der Übersetzung:

Die Exzesse des Liberalismus eindämmen

In dem Maße, wie die relative Macht des Westens stetig abnimmt, schwindet auch die innen- und außenpolitische Bedeutung des Liberalismus. Nach dem Kalten Krieg wurde die These vom „Ende der Geschichte“ weitgehend akzeptiert und mit der Annahme verbunden, die gesamte Welt würde sich nun unter liberalen Grundsätzen vereinigen, die unter der wohlwollenden Führung der USA überall durchgesetzt würden. Heute, da sich die internationale Machtverteilung stetig verschiebt, brächten westliche Staaten zunehmend ihre Besorgnis über den Niedergang der so genannten „liberalen internationalen Ordnung“ zum Ausdruck, schreibt Glenn Diesen, Professor an der Universität von Südostnorwegen mit Forschungsschwerpunkt „Politische Ökonomie Groß-Eurasiens.“ Seiner Ansicht nach stellt die Eindämmung der Exzesse des Liberalismus eine positive und notwendige Korrektur dar, da der ungebremste Liberalismus die nationale und internationale Stabilität untergräbt. Das System könne sich nicht selbst korrigieren, da die liberale Ideologie den kollektiven Westen in der Gewissheit seiner eigenen moralischen Überlegenheit blendete. Nun sei eine Grenze überschritten und der gegenwärtige Zustand sei nicht mehr funktionsfähig.

Der Artikel erschien zuerst am 21.10.2021 in englischer Sprache beim russischen think tank Valdai Club. Übersetzung von Ulrike Simon

Liberalismus in der Innenpolitik

Indem er das Individuum in den Mittelpunkt stellt, hat der Liberalismus tiefgreifende Ideen wie Demokratie und Menschenrechte gefördert, die jede gesunde Gesellschaft braucht. Dennoch blühte der Liberalismus innerhalb von Nationalstaaten auf, da er am erfolgreichsten ist, wenn er durch konservative Prinzipien gezügelt und ausgeglichen wird. Die Auswüchse des Liberalismus haben dazu geführt, dass er sich vom Nationalstaat abkoppelte, was – wie zu erwarten – zu Fragmentierung und revolutionärer Politik führte.

Platon und Sokrates äußerten sich kritisch über die Dauerhaftigkeit von Demokratien, da ein ungebremster Liberalismus schließlich zur Auflösung des sozialen Gefüges führen müsse, auf das er sich stützt. Sie vertraten die Ansicht, dass Demokratien umso liberaler werden, je länger sie bestehen, und dass sich das Individuum schließlich von der sozialen Gruppe, von der es abhängig ist, befreit, indem es die äußere Autorität von Familie, Glaube, Gesellschaft und Staat zunehmend ablehnt. Diese Analyse ist auch heute noch relevant, in einer Zeit, in der ein Individuum sich von allem zu emanzipieren sucht, seiner Nation und Kultur, der Kirche, der Familie, von Traditionen und sogar von der Realität des biologischen Geschlechts.

Der Liberalismus muss scheitern, wenn er zu gut funktioniert, da das atomisierte Individuum von jeglicher Autorität und Gruppeneinfluss befreit wird, was zu Narzissmus, Nihilismus und dem Zusammenbruch des für das Funktionieren der Zivilgesellschaft erforderlichen Sozialkapitals führt.

Samuel Huntington beschrieb diese Entwicklung in seinem schon 2004 publizierten Artikel „Dead Souls“ (Tote Seelen), in dem er argumentierte, dass „die Entnationalisierung der amerikanischen Elite“ zu Polarisierung und Populismus führen werde, da sich die Öffentlichkeit gegen die Auswüchse des Liberalismus wehre. Huntington kam zu dem Schluss, dass sich Gesellschaft und Politik in einen Kampf „Nationalismus gegen Kosmopolitismus“ aufspalten würden.1

Auch der Wirtschaftsliberalismus hat sich durch die Abkehr vom „eingebetteten Liberalismus“, der das kapitalistische System von 1945 bis 1980 kennzeichnete, und den Übergang zum neoliberalen Wirtschaftssystem ungebremst entwickelt.2 Im eingebetteten Liberalismus verteilte die politische Linke den Reichtum um, um die Konzentration des Kapitals zu verhindern, und die politische Rechte griff in den Markt ein, um traditionelle Werte und Gemeinschaften zu verteidigen. Präsident Reagan erkannte die Gefahr einer Unterordnung der Kultur, der traditionellen Werte und der christlichen Marktkräfte und warnte davor, sich „im Materiellen zu verlieren“, was zu einer „Verrohung der Gesellschaft“ und „einer untergehenden Nation“ führen würde.3 Der amerikanische Konservatismus durchlief jedoch eine revolutionäre Veränderung, als die Markteffizienz zur Leittugend wurde, während man gleichzeitig den Verfall der traditionellen Werte beklagte.

Unter dem neoliberalen Konsens, der sich der Unantastbarkeit ungehinderter Marktkräfte verschrieben hat, sind sowohl die politische Linke als auch die Rechte nicht in der Lage, ihren ideologischen Verpflichtungen nachzukommen und verstricken sich stattdessen in Kulturkriege, bei denen alle verlieren. Während die neoliberale Wirtschaft die Effizienz maximiert hat, führten die daraus resultierenden untragbaren sozialen und wirtschaftlichen Kosten wie nicht anders zu erwarten zu radikalem Populismus von rechts und links, um das Vakuum zu füllen.

Liberalismus in den internationalen Beziehungen

Im internationalen System hat der Liberalismus sowohl eine Tradition der Befriedung als auch des Imperialismus. Das Individuum in den Mittelpunkt zu stellen, kann humanere Sicherheitskonzepte fördern, aber auch die staatliche Souveränität als Grundprinzip des Völkerrechts aushöhlen. Dieser Widerspruch kann durch einen Ausgleich zwischen Liberalismus und dem Prinzip der souveränen Gleichheit gemildert werden.

Die Bemühungen, Demokratie und Menschenrechte in die internationalen Beziehungen einzubringen, sind weitgehend gescheitert, da sie zu einem Instrument zur Durchsetzung von Hegemonie durch souveräne Ungleichheit werden. Moskau z.B. enthielt sich 1948 der Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, weil es befürchtete, dass die westlichen Mächte die Menschenrechte als Instrument zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands nutzen würden.

Dennoch unterzeichnete Moskau 1975 die Helsinki-Vereinbarungen als Gründungsdokument für die gesamteuropäische Zusammenarbeit. Die Vereinbarungen von Helsinki waren insofern einzigartig, als sie die „Achtung der Menschenrechte“ als Diskussionsthema in die internationale Sicherheitsarchitektur einführten. Der erste Artikel des Abkommens war jedoch der Grundsatz der „souveränen Gleichheit“, der besagt, dass die Menschenrechte nicht zur Gestaltung der Beziehungen zwischen einem politischen Subjekt und einem politischen Objekt verwendet werden sollten. Die Vereinbarungen von Helsinki inspirierten in der Folgezeit Michail Gorbatschows Konzept eines „gemeinsamen europäischen Hauses“ und tiefgreifende Reformen innerhalb der Sowjetunion.

Als der Kalte Krieg auf dem Gipfeltreffen in Malta 1989 für beendet erklärt wurde, bot sich die Gelegenheit, die Vereinbarungen von Helsinki weiter zu vertiefen. Die Charta von Paris für ein neues Europa von 1990 baute auf den Vereinbarungen von Helsinki auf und forderte ein europäisches Sicherheitssystem mit dem Ziel der „Überwindung der Teilung Europas“, das auf dem Grundsatz beruht, dass „die Sicherheit jedes teilnehmenden Staates untrennbar mit der aller anderen verbunden ist“. Im Jahr 1994 wurden die Vereinbarungen von Helsinki in die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) umgewandelt, eine umfassende Sicherheitsinstitution, die auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit beruht.

Die Bedeutung von Demokratie und Menschenrechten bei der Gestaltung der zwischenstaatlichen Beziehungen in Europa begann zu schwinden, als das Konzept einer integrativen Sicherheitsarchitektur aufgegeben wurde. Hegemoniale Ambitionen wurden in der Schaffung eines Europas ohne Russland umgesetzt, das von einer expandierenden NATO und EU organisiert werden sollte. In der Folge wurde der Liberalismus zur hegemonialen Norm.

Der Liberalismus entkoppelte in dem Moment die Legitimität von der Legalität, als die NATO eine illegale „humanitäre Intervention“ startete und einseitig die Grenzen Serbiens änderte. Nach der illegalen Invasion im Irak wurde argumentiert, dass die USA eine „Allianz der Demokratien“ als alternative Legitimitätsquelle zur UNO schaffen sollten.4 Diese Idee wurde als „Konzert der Demokratien“ neu konzipiert, das den Westen zur Anwendung militärischer Gewalt ermächtigen würde, wenn ein solches Mandat bei den Vereinten Nationen nicht erreicht werden kann.5 Der republikanische Präsidentschaftskandidat von 2008, Senator John McCain, versprach in ähnlicher Weise, eine „Liga der Demokratien“ zu gründen, falls er die Präsidentschaftswahlen gewinnen würde, um sicherzustellen, dass autoritäre Staaten nicht in der Lage wären, die westlichen Demokratien unter der Führung der USA zu unterdrücken (Geis 2013).

In jüngerer Zeit sind diese Ideen in das Konzept einer „regelbasierten internationalen Ordnung“ als Ersatz für das Völkerrecht eingeflossen. Westliche Mächte beziehen sich zunehmend auf die regelbasierte internationale Ordnung anstelle des Völkerrechts, was Teil einer umfassenderen Initiative ist, die gesamte Welt entlang einer binären Trennlinie zwischen „Demokratie“ und „Autoritarismus“ aufzuteilen, die wenig oder gar keinen heuristischen Wert für das Verständnis der Komplexität der internationalen Politik bietet. Die regelbasierte internationale Ordnung enthält keine spezifischen Regeln, da die strategische Mehrdeutigkeit es einer Hegemonie ermöglicht, selektiv und widersprüchlich zu handeln. So hängt es von den Interessen des Westens ab, ob die regelbasierte internationale Ordnung dem Grundsatz der territorialen Integrität oder dem Selbstbestimmungsrecht im Kosovo und auf der Krim Vorrang einräumt. Die souveräne Gleichheit geht zu Ende, wenn Invasionen zu „humanitären Interventionen“ und Putsche zu „demokratischen Revolutionen“ umgetauft werden. Indem man sich auf die Legitimität statt auf das Recht stützt, werden alle internationalen Streitigkeiten zu einem Tribunal der öffentlichen Meinung, in dem die Staaten darum kämpfen, das Narrativ mit Propaganda zu kontrollieren.

Liberalismus eindämmen

Wenn es nicht gelingt, die Auswüchse des Liberalismus mit konservativen Grundsätzen im Inland und dem Prinzip souveräner Gleichheit auf internationaler Ebene einzudämmen, führt dies zu einer Degeneration der liberalen Ideale. John Herz charakterisierte 1950 die Tragödie des politischen Idealismus wie folgt:

„Paradoxerweise hat er seine große Zeit, wenn seine Ideale unerfüllt sind, wenn er in Opposition zu überholten politischen Systemen steht und der Strom der Zeit ihn zum Sieg anschwellen lässt. Sie entartet, sobald sie ihr Endziel erreicht hat, und im Sieg stirbt sie“.

Die gegenwärtige globale Umwälzung von Werten und Ideologie wird unweigerlich zu Instabilität und Konflikten führen. Antonio Gramsci schrieb in den späten 1920er oder frühen 1930er Jahren über die Schwierigkeiten einer Welt im Übergang: „Die Krise besteht gerade darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann; in diesem Interregnum treten die verschiedensten Krankheitssymptome auf“.

1Huntington, S.P., 2004. Dead Souls: The Denationalization of the American Elite, The National Interest, 1 March 2004.

2Ruggie, J.G., 1982. International Regimes, Transactions, and Change: Embedded Liberalism in the Postwar Economic Order, International organization, vol.36, no.2, pp: 379-415.

3Reagan, R., 1984. Remarks at an Ecumenical Prayer Breakfast in Dallas, Texas, Reagan Library, 23 August 1984.

4Daalder, I. and Lindsay, J., 2004. An Alliance of Democracies, The Washington Post, 23 May 2004.

5Ikenberry, G.J. and Slaughter, A.M., 2006. Forging a World of Liberty under Law. U.S. National Security in the 21st Century. Princeton, NJ. Final Paper of the Princeton Project on National Security.

Ende der Übersetzung

 

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