Kapital – Arbeit – Inflation

Mein vierter Artikel zu Marx, MMT und linke Strategie (zuerst veröffentlicht am 15.12.2021 bei Makroskop – Links zur allen Artikeln der Reihe siehe unten)

Sind die zum Teil drastischen Preiserhöhungen dieses Jahres der Beginn einer neuen dauerhaften inflationären Entwicklung? Nein, sagt die MMT – wohl aber seien sie Folge der Verwerfungen der Corona-Krise.

Ein erhöhter Mindestlohn wäre für ihn schon eine gute Sache, findet mein Enkel, der in der Gastronomie jobbt. Ebenso ist für ihn klar, dass seine Freude anderen schadet, für die nun zwangsläufig der Restaurantbesuch teurer wird.

Diese „Wahrheit“ scheint Teil des Alltagswissens der meisten Menschen zu sein: die Wahrung meines Eigeninteresses, sei es nun mein Wunsch nach einer Lohnerhöhung, die Inanspruchnahme von Corona-Hilfen oder meine Forderung, dass Intensivstationen, Kitas, Schulen und öffentlicher Nahverkehr besser ausgestattet werden – es schadet der Gemeinschaft als Ganzes. Denn: All das muss zu Kürzungen an anderer Stelle führen (was durch die Struktur der Etats, zum Beispiel in Pflegeheimen, durchaus der Realität entspricht), zu Inflation oder im Falle von mehr „Staatsschulden“ zur Belastung zukünftiger Generationen.

Die weniger Glücklichen bleiben hin- und hergerissen zwischen Bewunderung der- und Wut auf diejenigen, die weniger Skrupel und mehr Glück als man selbst hatten und so dazu beitrugen, dass die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinanderklafft. Sie können sich damit trösten, dass angesichts der Umweltprobleme zu viel Konsum sowieso schädlich ist, und man das gefährliche, laute und umweltschädliche Motorrad-Hobby meines Enkels nicht noch durch leichter verdientes Geld fördern sollte. Wenigstens für junge Aushilfsjobber muss es doch Mindestlohn-Ausnahmen geben!

Verlassen wir diese eher individuell geprägte Sichtweise, landen wir auf der volkswirtschaftlichen Ebene direkt im Konflikt zwischen Kapital und Arbeit. Denn in monetären Wirtschaftsordnungen, in denen die Triebkraft der Produktion der Profit ist, und in denen die Besitzer der Produktionsmittel allein über die erarbeiteten Wertzuwächse verfügen, tauchen Löhne lediglich als Kostenfaktor auf. Höhere Löhne beschränken den Profitanteil der Unternehmer. In seinem Blogbeitrag (modern) Marx and MMT zitiert Bill Mitchell aus Robert Rowthorns Aufsatz „Inflation und Krise“:

Kapitalisten kontrollieren die Produktion, und sie werden nicht investieren, solange sie nicht eine bestimmte „normale“ Profitrate erhalten. Wenn die Löhne zu schnell steigen, sei es aufgrund eines extremen Arbeitskräftemangels oder aufgrund militanter Gewerkschaften, fällt die Profitrate unter ihr „normales“ Niveau, die Kapitalisten weigern sich zu investieren, die Expansion kommt zum Stillstand und es kommt zu einer Krise. Die „Kapitalisten [haben] die Peitsche in der Hand“ und wenn die Arbeitnehmer im Lohnkampf zu erfolgreich seien, reagierten „die Kapitalisten mit Investitionsverweigerung, und das Ergebnis ist eine vorzeitige oder längere Krise. Um diesem Dilemma zu entkommen, müssen die Arbeitnehmer über den rein wirtschaftlichen Kampf hinausgehen und auf politischer Ebene kämpfen, um die Kontrolle über die Produktion selbst auszuüben.[1]

Auch wenn diese Auseinandersetzung der Kern der kapitalistischen Widersprüche ist, hat der Kapitalist bei der Realisierung seines Profits ein weiteres Problem: er muss sein Produkt am Markt verkaufen. Auch dieser Prozess ist notwendig krisenhaft.

Entscheidend für den Verkauf der hergestellten Produkte ist die Höhe der gesamtgesellschaftlichen Nachfrage. Und hier zeigt sich, dass der Arbeitsmarkt eben kein Kartoffelmarkt ist und Arbeitskräfte nicht nur Kosten- sondern auch die entscheidenden Kaufkraft-Faktoren sind.

Im MMT-Lehrbuch Macroeconomics wird mit Keynes im Kern der nicht-auflösbare Klassenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit als wesentliche Inflationsursache ausgemacht, wobei Inflation als ein über eine längere Periode hin fortschreitender Prozess der Geldentwertung definiert wird.
Demnach steht eine Lohn-Preis-Spirale im Zentrum einer wirklichen inflationären Entwicklung. Entweder die Arbeitgeber oder die Lohnabhängigen sind mit ihrem Anteil unzufrieden: Erstere erhöhen die Preise, weil sie die zu hohen Löhne nicht über Produktivitätssteigerungen kompensieren können; letztere setzen wegen zu hoher Preise Lohnerhöhungen durch; die Nachfrage übersteigt das Angebot, die Unternehmen reagieren mit Preissteigerungen, es folgen weitere Lohnforderungen und so weiter.

Umgekehrt haben im Falle einer schwachen Arbeiterbewegung jedoch die Empfänger zu niedriger Löhne keine Möglichkeit auf dem Markt zu signalisieren, dass sie bei höheren Löhnen mehr einkaufen würden, was zu einer Abwärtsspirale der Kaufkraft und damit der Investitionen führt.

In den Wohlfahrtsstaaten der Nachkriegszeit, die ihre Wirtschaftspolitik an Keynes orientierten, versuchte man, diesen Konflikt zu moderieren und durch politische Maßnahmen die goldene Lohnregel durchzusetzen. Die besagt, dass sich die Nominallohnentwicklung an der Produktivitätsentwicklung plus der Zielinflationsrate orientieren sollte. Bei höheren Löhnen lebe eine Volkswirtschaft über ihren Verhältnissen, die Folge sei Inflation, bei niedrigeren Löhnen lebe man unter seinen Verhältnissen, die Folge sei ein verlangsamtes Wirtschaftswachstum, wenn man die fehlende Inlandsnachfrage nicht, wie Deutschland heute, durch Exporte kompensieren kann.

Deswegen sorgten diese Wohlfahrtsstaaten durch Fiskalpolitik auch für zusätzliche Nachfrage seitens des Staates mit dem Ziel der Vollbeschäftigung, denn dafür würde die Einhaltung der goldenen Lohnregel nicht automatisch sorgen. Übrigens ein Grund, warum auch die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes ein Recht haben, für Lohnerhöhungen zu kämpfen: sie setzen damit sinnvolle wirtschaftliche Signale, jedenfalls in der heutigen Zeit.

Es gab Zeiten, in denen Arbeitslosigkeit nicht als individuelle Schuld galt und viele Menschen der Meinung waren, sie hätten sich durch ihre Arbeitsleistung Lohnerhöhungen und Kuren verdient. In großen Teilen der Gesellschaft herrschte Einigkeit darüber, dass kollektive Verhandlungsmacht sinnvoll und nötig sei, und man sich das als Lohnabhängiger über gewerkschaftliches Engagement auch etwas kosten ließ.

Das Trauma der Öl- und Wirtschaftskrise änderte alles

Das Trauma der Öl- und Wirtschaftskrise in den 1970er Jahren änderte das alles: Die Wirtschaft brach ein, die Preise und Löhne stiegen trotzdem. Wurde mit falschem Anspruchsdenken zu lange über die Verhältnisse gelebt? Mussten nun alle dafür bezahlen? Zumindest wurde diese Sicht im Laufe der nächsten Jahre zum bis heute vorherrschenden Narrativ bis weit in die sozialdemokratische politische Linke hinein.

Thomas Fazi erklärt diesen Einschnitt damit, dass die Unternehmer den fordistisch-keynesianischen „Klassenkompromiss“ nur deshalb unterstützt hätten, weil dieser ein entscheidender Bestandteil dieses spezifischen Akkumulationsregimes war. Gleichzeitig seien aber dieselben Klassen gezwungen gewesen, ihre Unterstützung für diesen Kompromiss aufzugeben, sollte er jemals zu einem Hindernis für die Akkumulation werden.
Genau dies sei in den 1970er Jahren, vor allem aufgrund des kämpferischen Lohndrucks und der steigenden Erwartungen der Volksschichten geschehen. In dieser Situation hätten die linken Parteien nicht über das notwendige theoretische Rüstzeug verfügt, um die kapitalistische Krise, die das keynesianische Modell in den 1970er Jahren überrollte, zu verstehen und richtig darauf zu reagieren.

Tatsächlich konnte der wieder aufflammende Konflikt zwischen Arbeit und Kapital nur auf die eine oder andere Weise gelöst werden: zu den Bedingungen des Kapitals, durch eine Verringerung der Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer, oder zu den Bedingungen der Arbeitnehmer, durch eine Ausweitung der staatlichen Kontrolle über Investitionen und Produktion.

Wie die Erfahrung der sozialdemokratischen Regierungen in den 1970er und 1980er Jahren gezeigt hätte, so Fazi, war die Linke jedoch nicht bereit, diesen Weg zu gehen. Unvorbereitete Linke trafen auf sehr gut vorbereitete Neoliberale, denen es in einer beispiellosen ideologischen und politischen Offensive nicht nur gelang, die staatliche Wirtschaftspolitik der Industriestaaten radikal zu verändern, sondern ebenso das Alltagsbewusstsein der Bevölkerung.

Von nun an galt:

  • Nicht die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hat Vorrang, sondern die der Inflation.
  • Arbeitslosigkeit ist entweder funktional, weil dadurch die Löhne auf das für Vollbeschäftigung nötige niedrige Niveau gedrückt werden,
  • die Folge zu großzügiger staatlicher Unterstützung, die diesen Prozess verhindere, oder
  • eine freiwillige, individuelle Entscheidung der Betroffenen in rationaler Abwägung der durch Arbeit oder Freizeit zu erzielenden Vorteile.
  • Staatsschulden verursachen Inflation.
  • Die Globalisierung und die Finanzmärkte binden den nationalen Regierungen die Hände.

Hatte Keynes unrecht?

Hatte sich Keynes also doch geirrt? Aus Sicht der MMT nicht. Die Entwicklung der vergangenen Jahre habe gezeigt, dass trotz aller Versuche der Zentralbanken über Niedrigzinspolitik und quantitative easing die Wirtschaft anzukurbeln, das erwünschte Wirtschaftswachstum nicht erreicht wurde. Das sei klar auf die Vernachlässigung der Nachfrageseite, die Niedriglohnpolitik, die Schwächung der organisierten Arbeiterschaft und den Rückgang staatlicher Investitionen zurückzuführen.

Auch trat keine inflationäre Entwicklung ein. Dass Inflation dadurch ausgelöst wird, dass zu viel Geld im Umlauf ist, lässt sich empirisch nicht belegen. Allerdings hat die Niedrigzinspolitik der Zentralbanken die Explosion der Immobilienpreise befeuert.
Die Arbeitslosen werden als Puffer für die Inflationsbekämpfung missbraucht, die Lage der Lohnabhängigen hat sich verschlechtert, die Unzufriedenheit großer Bevölkerungsteile ist in dem gleichen Maße gestiegen, wie ihr Vertrauen in die Regierungen gefallen ist. Letztere haben ihre Geldschöpfungsmacht zur Rettung der Finanzmärkte eingesetzt, nicht aber zur Entlastung ihrer ärmsten Bürger.

Die kapitalistische Krise wurde so jedoch nicht gelöst. Heute drängt die Finanzindustrie auf staatliche Projekte, die ihr sichere Renditen aus der Realwirtschaft verspricht, und setzt dabei auf die Digitalisierung und den Kampf gegen die Erderwärmung. Wahrscheinlich wird so weder die ökonomische noch die ökologische noch die soziale Krise zu lösen sein.

Sind die zum Teil drastischen Preiserhöhungen dieses Jahres der Beginn einer neuen dauerhaften inflationären Entwicklung? Bill Mitchell verneint das angesichts der relativen Schwäche der Gewerkschaften und der Zahl der Arbeitslosen und Unterbeschäftigten. Die Preiserhöhungen seien vielmehr die Folge der Verwerfungen der Corona-Krise und zeigten gleichzeitig, wie dysfunktional das neoliberale just-in-time System sei, das keinerlei Spielraum für unverhoffte Entwicklungen lasse. So wurde zu Beginn der Pandemie in vielen Ländern keine Schutzkleidung vorgehalten und aus Kostengründen waren die Intensivstationen in Krankenhäusern verkleinert worden. Containerschiffe können nicht entladen werden und die Lager sind leer.

Zinserhöhungen der Zentralbanken und Lohnverzicht seien die falschen Antworten, sagt Mitchell. Wir werden sehen, ob er recht hat.

Gönnen wir meinem Enkel aus volkswirtschaftlicher Sicht also den höheren Mindestlohn – ob ein Elektromotorad das ökologische Konsumproblem lösen kann, ist eine ganz andere Frage.

Im nächsten Teil dreht sich alles um die Entwertung der Arbeit.

[1] Rowthorn, R. (1980) Capitalism, Conflict and Inflation: Essays in Political Economy, Lawrence and Wishart, London.
[2] Die Hyperinflationen in Deutschland 1923 oder in Zimbabwe seien hingegen durch Angebotsschocks ausgelöste Ausnahmen gewesen. In Deutschland sei das Angebot wegen des Vorrangs von Exporten zur Bedienung der Reparationspflichten aus der Niederlage im Ersten Weltkrieg, extrem verknappt worden. In Zimbabwe habe die Enteignung der produktiv arbeitenden weißen Farmer und ihre Ersetzung durch ehemalige Soldaten ohne landwirtschaftliche Kenntnisse zum Einbruch der Getreideproduktion geführt.
[3] Dass Fiskalpolitik inflationäre Entwicklungen anheizen kann, steht außer Frage. Das wäre Gegenstand eines eigenen Artikels (und wird es vielleicht auch sein).
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Reihe: Marx, MMT und linke Strategie

0. Marx, MMT und linke Strategie
1. Die Linke, Ökonomie und die MMT
2. Marx und das Geld
3. Die Geschichte von den Staatsfinanzen
4. Kapital – Arbeit – Inflation
5. Die Entwertung der Arbeit (1) Auf Makroskop erschienen am 21.12.21

 

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