Den Frieden gewinnen: zum gleichnamigen Buch von Heribert Prantl

Heribert Prantl hat über die Süddeutsche Zeitung jahrelang den politischen Diskurs in Deutschland geprägt. Nun hat er ein Buch mit dem Titel „Den Frieden gewinnen“ geschrieben, das ich rezensiert habe. (Hier als pdf-Datei). Die Rezension ist sehr wohlwollend ausgefallen und wurde zusätzlich vor der Veröffentlichung nochmals weichgespült. Ich denke, sie kann trotzdem nützlich sein. Prantl argumentiert nämlich, dass es notwendig ist, friedliche Lösungen für die aktuellen Konflikte, insbesondere den Ukraine-Krieg zu suchen, auch wenn wenn man keinerlei Verantwortung für den Ausbruch des Krieges trägt (ich würde natürlich sagen „trüge“, aber sei es drum), mehr noch, Politik und Gesellschaft in Deutschland seien sogar dazu verpflichtet. Der Fehler liegt seiner Meinung nach in dem sich Einlassen auf die Kriegslogik selbst, wie es sich in der Zeitenwende manifestiert hat. Er fordert ein Umdenken in Richtung Friedenslogik, die Schuldfrage sei zweitrangig. Und er gibt zu bedenken, dass es trotz aller widrigen Faktoren, möglich ist, Frieden zu schaffen.

Unter dieser Voraussetzung könnten auch diejenigen, für die Putin nichts Anderes als ein Schurke und Kriegsverbrecher ist, nun darüber nachdenken, ob es, um ihm Einhalt zu gebieten, Alternativen zu militärischer Eskalation und der generellen Militarisierung unserer Gesellschaft gibt. Und ist der Dialog einmal in Gang gekommen, sind überraschende Lösungen möglich. Da die Friedensfrage die wichtigste überhaupt ist, ist nur zu wünschen, dass diese Argumentation möglichst viele Menschen überzeugt.

That said, möchte ich trotzdem ein paar Gedanken und Kritikpunkte loswerden, die nicht (teilweise nicht mehr) in der veröffentlichten Rezension vorkommen.

1. Ob ich eine Feministin bin, weiß ich nicht. Aber mit ihnen war ich immer der Meinung, dass das Politische privat und das Private politisch ist. Nirgendwo gilt das mehr als beim Thema Krieg und Frieden, wie wir ja gerade auch wieder im Zusammenhang mit der gnadenlosen Bombardierung Gazas und des Libanons durch Israel hilflos beobachten müssen. Die Menschen leiden unabhängig davon, ob sie auf der „richtigen“ oder der „falschen“ Seite stehen. Den Schrecken des „Ausgebombt-Werdens“ bekamen wir mit den Erzählungen unserer Mutter über ihre Erfahrungen im 2. Weltkrieg von frühester Jugend an mit. Genauso wie das sich ergebende Leid aus der langen Kriegsgefangenschaft des Vaters in Russland. Dies und Anderes war nicht nur unsere private Familienerfahrung, sondern die der gesamten Kriegs- und Nachkriegsgeneration und prägte unser aller Leben entscheidend. Und so ist es eben diese persönliche Erfahrung, die jemanden dazu bewegen könnte, sich mit Prantls Buch zu beschäftigen oder gar seinen Appell zu Herzen zu nehmen; dies besonders auch dann, wenn, wie für mich, der Einsatz für Frieden (wie übrigens auch das – universell verstandene – Post-Holocaust-Nie-Wieder) zeitlebens die moralische Grundkomponente für privates und berufliches Handeln war.

Prantl scheint meine große Bestürzung darüber, dass diese Haltung, die ich immer als selbstverständlich betrachtet hatte, mit der Zeitenwende in Deutschland endgültig nicht mehr en Vogue ist, zu teilen und zu verstehen. Und vielleicht ist eine Erklärung für den allenthalben zu beobachtenden Bellizismus die Tatsache, dass für die heute Verantwortlichen die Erfahrungen des 2. Weltkrieges keine persönliche Rolle mehr spielen (und sie die millionenfachen Opfer des Krieges gegen den Terror,  den Kriegshorror, den die ukrainischen – und russischen – Soldaten und Zivilisten erleiden müssen, und den Horror der Zivilbevölkerung in Gaza und im Libanon mit Erfolg von sich abspalten können – auch das gibt zu Denken …). Der persönliche Bezug hat in einer Buchrezension, wie ich finde, immer einen wichtigen Platz (warum sollte ich es sonst lesen?), aber beim Thema Krieg und Frieden ganz besonders. Und deswegen finde ich es mehr als schade, dass dieser Bezug in meinem veröffentlichten Text nicht mehr vorkommt.

2. Damit ist bereits die große Frage angesprochen: „Warum dieser Bellizismus, der doch gar nicht zu Deutschland zu passen scheint?“ Trotz seiner ausschweifenden Ausflüge durch Religion, Philosophie, Literatur etc., durch die ich mich durchgequält habe, kommt Prantl an dieser Stelle nicht wirklich zum Punkt. Für uns im „Westen“ scheint festzustehen: Das russische Volk ist durch Putins Propaganda völlig verblendet; anders sind seine Zustimmungsraten nicht nachzuvollziehen. Ein Grund für den deutschen Bellizismus ist laut Prantl ebenfalls Propaganda. Aber von wem geht die aus? Wer ist unser „Putin“? Gibt es Interessengruppen im eigenen Land, die Aufrüstung und Krieg möchten? Warum? Kommt die Propaganda von außen? Im ganzen Buch darüber kein Wort. Wohl aber darüber, dass alle Menschen die Fähigkeit in sich tragen, friedlich oder gewalttätig zu sein, und deswegen für Propaganda anfällig sind.

Mir scheint, dass sich hierzulande fast alle, die darüber überhaupt nachdenken, damit zufrieden geben, den Zeitenwende-Schwenk mit dem Schock zu erklären, den der russische Angriff ausgelöst hat. Angst und moralische Empörung haben „unsere Gesellschaft“ ganz selbstverständlich und im Grunde alternativlos auf Kriegskurs gesetzt. (Einen parallelen Schock der russischen Gesellschaft durch die Ereignisse in der Ukraine können die gleichen Leute sich allerdings nicht vorstellen.) Wenn das wirklich so wäre, dann hätte Prantl das Thema Propaganda auch weglassen können; denn demnach hätte die deutsche Gesellschaft eine völlig natürliche Reaktion gezeigt, die sie aber nun laut Prantl überdenken muss, denn die Kriegslogik führt in den Untergang und ist deswegen unverantwortlich. Sie ist zudem seiner Ansicht nach auch grundgesetzwidrig.

Meine Frage nach dem Hintergrund der Propaganda gilt oft schon als Verschwörungstheorie. Vielleicht denkt Prantl deswegen an der Stelle nicht weiter. Ich aber komme nicht umhin, immer wieder auf die Bösartigkeit des westlichen Imperialismus und die Blindheit meiner Mitbürger dieser Bösartigkeit gegenüber zu stoßen: Die gerne über Leichen gehenden ehemaligen amerikanischen Außenministerinnen Madeleine Albright und Hilary Clinton, ein arroganter jüngerer Biden, der sich darüber mokiert, dass Putin sich nicht gegen die Nato-Erweiterung wehren kann, die Schadenfreude etlicher Politiker*innen über den „Erfolg“ des Pager-Angriffs im Libanon, der ungezielt eben auch viele Unschuldige traf, die völlig kaltblütige Planung der Zerschlagung Russlands durch Think Tanks, die Verfolgung von Julian Assange … I could go on and on and on …Ob Bösartigkeit und Blindheit psychologisch, kulturell oder ökonomisch bedingt sind, wer genau eigentlich welche Rolle spielt (ich habe gerade nur amerikanische Beispiele genannt, obwohl es deutsche und europäische zuhauf gibt) u.v.m. beschäftigt mich sehr. Wie die Protagonistin eines Romans erwische ich mich oft bei der hilflos-naiven kindlichen Frage: „Aber warum tut einer das? Das verstehe ich nicht.“ Trotz aller Geschwätzigkeit hat Prantl sich, wie ich finde, um diese Frage gedrückt. Aber vielleicht hat er auch mit seiner Geschwätzigkeit den Blick darauf verstellt. Und sicher kann man in Russland und anderswo auf der Welt jede Menge „Böses“ finden. Aber Prantl hat nun mal die Stimmung in Deutschland zum Gegenstand seines Buches gemacht, da ist es vielleicht nicht nötig, immer wieder ein „Aber Russland!“ entgegen zu halten.

3. Nicht nur das Thema Propaganda hat Prantl nicht zu Ende gedacht, sondern auch andere Themen; ob aus Blindheit oder sogar wider besseres Wissen, vermag ich nicht zu beurteilen. Zwei Beispiele mögen das verdeutlichen:

a) In einem Kapitel unterscheidet er zwischen „Moralhandeln“ und „Verantwortungshandeln“ der Politiker. Die beiden Maximen würden oft als Gegensatz gesehen. Prantl jedoch hält das für falsch. Vielmehr sei es in bestimmten Situationen moralisch und verantwortungsbewusst, nicht auf dem moralisch Richtigen zu beharren und stattdessen das zu tun, was den meisten Schaden von den Beteiligten abwendet. Den Ukraine-Krieg sieht er als Beispiel: Moralisch sei es gerechtfertigt, auf einem militärischen Sieg über Putin zu bestehen. Das sei aber wegen der Schrecken des Krieges unverantwortlich. Deswegen müsse man mit Putin verhandeln, um den Krieg so schnell wie möglich zu beenden. So weit, so gut.

Wenn aber, wie er an anderer Stelle ausführt, die Dämonisierung Putins nur von unserem eigenen Potential, böse zu sein, ablenkt, und das Böse immer konkret und gerade nicht dämonisch ist, – warum versetzt sich Prantl dann nicht auch einmal in die Lage Putins? Könnte es nicht sein, dass dieser in der konkreten Situation gute Gründe hatte, das moralisch Falsche zu tun und aus Verantwortung das Völkerrecht zu brechen, und die Krim besetzte und die Ukraine angriff? War für einen Staatsmann, der sich um die Sicherheit seines Landes sorgen macht, nicht den Erhalt des Standortes der Schwarzmeer-Flotte auf der Krim, elementar? War er nicht dazu verpflichtet, die russisch-sprachige Bevölkerung des Donbass schützen? Musste er nicht ein bis an die Zähne bewaffnetes Anti-Russland vor seiner Haustür verhindern? Man braucht das alles ja ebenso wenig gutheißen wie weitere Waffenlieferungen an die Ukraine – aber es sollte doch legitim sein, über mögliche Beweggründe nachzudenken und den Versuch zu unternehmen, diese nachvollziehen, ohne gleich zum Putin-Apologeten abgestempelt zu werden! Als ich Politik studierte, ging es in der Hauptsache um die Bestimmung von Interessen. Ist das heute nicht mehr so? Das alles fehlt im Buch und Prantl scheint sich sogar ausdrücklich nicht damit befassen zu wollen (obwohl er es bedauert, dass man schon, wenn man nur für Diplomatie eintritt, in Deutschland öffentlich fertig gemacht wird): Im Zusammenhang mit möglichen Verhandlungen, schreibt er, müsse man über die Schuldfrage nicht mehr sprechen, denn die sei eindeutig geklärt, und das müsse auch in künftigen Vereinbarungen Konsequenzen haben. Im dreißigjährigen Krieg sei das anders gewesen, wo man im Westfälischen Frieden die Schuldfrage deswegen ausgeklammern konnte, weil ein evtl. Schuldiger nicht mehr auszumachen gewesen sei. Wie weit man mit dieser Prämisse erfolgreiche Verhandlungen mit Russland führen kann, bleibt für mich offen.

b) Prantl begründet in seinem Buch, warum man viel von Pazifisten lernen könne, wenn man konsequent einer Friedenslogik folgen wolle. Allerdings gäbe es Situationen, in denen man mit Gewaltfreiheit nicht weiter komme. Als Beispiel nennt er den Krieg gegen den Faschismus. Auch die Ikone der Gewaltfreiheit, Mahatma Gandhi habe den bewaffneten Kampf gegen die Kolonialherrschaft für notwendig gehalten, und Prantl widerspricht dem nicht. Dann berichtet er über die Auseinandersetzung zwischen Martin Buber und Gandhi über die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina, die ja auch nicht ohne Gewalt vor sich ging. Buber sei extrem darüber enttäuscht gewesen, dass Gandhi dieses Anliegen nicht unterstützt habe, Buber habe sich Gandhis Haltung nur so erklären können, dass er die fatale Lage der Juden nicht einzuschätzen wusste. Was Prantl darüber denkt, bleibt letzten Endes offen. Befremdlich, vor allem auch wegen der aktuellen Lage in Nahost, finde ich jedoch, dass er dabei stehen bleibt, wie Bubers sich Gandhis Auffassung selbst erklärt hat. Dabei sind Gandhis Gründe bekannt und nicht schwer zu finden. Dieser schrieb nämlich: „Palästina gehört den Arabern, und es ist falsch und unmenschlich, die Juden den Arabern aufzuzwingen“ (Buber, M./Gandhi, M.K.: Juden, Palästina und Araber, München 1961, Seite 5). Gandhis Sicht war die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina sehr wahrscheinlich ein koloniales Projekt. Dass Israel 1967  auch die Gebiete besetzte, die den UN-Beschlüssen gemäß für einen palästinensischen Staat vorgesehen waren, hätte ihn sicher in dieser Ansicht bestärkt. Das neueste Urteil des Internationalen Gerichtshofs, in dem Israel eindeutig als Besatzungsmacht charakterisiert, und dazu aufgefordert wird, die Gebiete sofort zu räumen und die Bevölkerung zu entschädigen, bestätigt diese Auffassung als die, die dem internationalen Völkerrecht entspricht. Daraus ergibt sich aber dann zwangsläufig die Frage, ob die Palästinenser heute nicht einen moralisch gerechten Krieg gegen eine Besatzungsmacht führen. Und das ist ein Minenfeld, das Prantl nicht betritt (das Buch wurde allerdings vor dem 7.Oktober 2023 geschrieben, weswegen nur nachträglich einige Worte zum aktuellen Konflikt ergänzt wurden).

Fazit: Wer Prantl mag und seine verschlungenen Wege durch die europäische Geistesgeschichte spannend findet, findet auch viele Anregungen zum Nachdenken über Wege zum Frieden. Betonen möchte ich auch, dass ich seine Interpretation der Präambel des Grundgesetzes, aus der sich unsere Pflicht zur Friedenspolitik ergibt, sehr einleuchtend und wichtig finde. Auch seine vehemente Kritik an dem Bundesverfassungsgerichtsurteil, das die Nato, ein Militärbündnis, das sich auch in Friedenszeiten gegen einen oder mehrere Gegner richtet, als gleichwertig zu einer internationalen Organisation, in der alle Beteiligten kollektiv an einer Friedensordnung arbeiten, bewertete, halte ich für angemessen. Insofern bleibe ich dabei, dass er ein wichtiges Buch geschrieben hat. Ich persönlich hätte es vermutlich nicht so intensiv gelesen, wenn ich nicht vorgehabt hätte, eine Rezension darüber zu schreiben; denn immer wenn es ans Eingemachte geht, duckt er sich weg.

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