Dèjà-vu: Besuchen Sie Europa, solange es noch steht.

Stationierung amerikanischer Mittelstreckenrakenten in Deutschland.

Die Welt meldet: „Kiesewetter kritisiert Nato. Mittelstreckenraketen-Stationierung in Deutschland kommt viel zu spät.“
Die NATO habe beschlossen, konventionelle Mittelstreckenraketen wieder auf deutschem Boden zu stationieren. Roderich Kiesewetter, Mitglied im Auswärtigen Ausschusses, begrüße im Rahmen von Deutschlands Umstellung auf Kriegswirtschaft diese Maßnahme als richtige Antwort auf die russische Eskalation und habe betont, dass dies eine Übergangsmaßnahme sei bis Deutschland seine eigene Militärstrategie mit weitreichenden Präzisionswaffen umsetze.

Schon der Titel enthält eine Falschmeldung: Es handelt sich nicht um einen Nato-Beschluss, sondern um eine Vereinbarung zwischen Deutschland und den USA. Es sind die USA, die ab 2026 in Deutschland auf Russland gerichtete Raketen stationieren werden. Darunter sollen „Tomahawk“-Mittelstreckenraketen mit deutlich mehr als 2.000 Kilometern Reichweite, Flugabwehrraketen vom Typ SM-6 und die sich noch in der Entwicklung befindlichen Überschallwaffen sein, zum Schutz der europäischen Verbündeten.

Déjà-vu. Vor 25 Jahren mobilisierte der Nato-Doppelbeschluss die größte Friedensbewegung Europas.

Millionen Menschen gingen gegen die Stationierung amerikanischer Pershing II Mittelstreckenraketen in Europa auf die Straße, u.a. 350.000 Teilnehmer an der Demo im Bonner Hofgarten. Der Plan führte zu einer erregten Debatte über die Abschreckungsstrategie der Nato. Die Gegner des Beschlusses argumentierten, dass so eine neue Eskalationsstufe der atomaren Aufrüstung erreicht würde, und Westeuropa sich damit direkt zum Ziel eines Atomangriffs mache. Die Raketen trügen nicht etwa zu unserem Schutz bei, sondern verstärkten im Gegenteil die atomare Gefahr.

Im Nachhinein erwies sich sein Doppelcharakter als stärkstes Argument für diesen ab 1983 umgesetzten Beschluss: Mit der Stationierung von Raketen war der Auftrag verbunden, Abrüstungsverhandlungen aufzunehmen. Schließlich, so die Befürworter, habe die Mittelstrecken-Stationierung die Sowjetunion am Ende zum Einlenken gezwungen, und Gorbatschow habe 1987 einem der wichtigsten Abrüstungsabkommen der Nachkriegszeit zugestimmt, dem INF-Vertrag. Darin vereinbarten die USA und die Sowjetunion Rückzug, Vernichtung und Produktionsverbot all ihrer atomar bestückbaren landgestützten Flugkörper mit Reichweiten von 500 bis 5500 km und ihrer Trägersysteme. Im Mai 1991 wurden die letzten Flugkörper verschrottet. Es traten wichtige Kontrollmechanismen in Kraft, die bis 2019 auch wirksam waren.

Bis Donald Trump mit der Begründung, Russland habe die Vertragsbedingungen verletzt, das Abkommen einseitig aufkündigte. Ob der Vorwurf stimmte, wurde nicht überprüft, was ja im Rahmen der Vereinbarungen durchaus möglich gewesen wäre. Russland warf seinerseits den USA vor, durch die Stationierung von Aegis-Ashore-Raketenabwehrsystemen in Rumänien und Polen möglicherweise gegen das INF-Abkommen zu verstoßen. Denn die Systeme verwenden Mk-41-Vertikalraketen, die mit Tomahawk-Raketen bestückt werden können.

Trumps Nachfolger Präsident Biden beließ es bei der Kündigung. In der Folgezeit unternahm Moskau mehrere Initiativen, um den Vertrag wieder zu aktivieren, im September 2019 schlug Putin ein Moratorium in Bezug auf Mittelraketenstrecken vor, ein Angebot, dass er im Oktober 2020 erweiterte, ohne Erfolg. Im Dezember 2021 kündigte Russland laut Reuters an, dass es sich gezwungen sähe, selbst Mittelstreckenraketen zu stationieren, wenn die USA weiterhin nicht bereit seien, über ein Moratorium zu verhandeln. Die Nato verneinte damals entsprechenden Pläne, war aber auch nicht verhandlungsbereit und warf Russland erneut vor, selbst das Abkommen verletzt zu haben. Im Juni 2024 kündigte Putin dann an, man werde nun tatsächlich die Produktion der bisher verbotenen Raketensysteme aufnehmen, woraufhin nun Deutschland und die USA ihren Schritt als Reaktion auf diese Ankündigung und die fehlende Kompromissbereitschaft Putins „verkaufen“, ohne aber die lange Vorgeschichte und die verpassten Chancen zu berücksichtigen.

Der INF-Vertrag war nicht der erste Abrüstungsvertrag, der einseitig von den USA gekündigt wurde. Schon im Jahr 2001 kündigte Präsident Bush den ABM-Vertrag. Dieser Vertrag „wurde 1972 von Washington und Moskau unterzeichnet, um das nukleare Wettrüsten zu verlangsamen. Er verbot beiden Supermächten, eine nationale Verteidigung gegen ballistische Langstreckenraketen aufzubauen und die Grundlagen für eine solche Verteidigung zu schaffen. Der Vertrag beruhte auf der Annahme, dass, wenn eine der beiden Supermächte eine strategische Verteidigung aufbaut, die andere ihre offensiven Nuklearkräfte aufstocken würde, um die Verteidigung auszugleichen. Die Supermächte würden sich daher schnell auf einen nicht enden wollenden offensiv-defensiven Rüstungswettlauf zubewegen, bei dem jeder versucht, die Maßnahmen des anderen auszugleichen.“

Noch in den 1990ern waren sich alle Beteiligten darüber bewusst, dass ein nuklearer Erstschlag der Vereinigten Staaten oder Russlands gegen die jeweils andere Seite eine unaufhaltsame Reaktion zur Folge hätte, die beide Länder verwüsten und die Welt mit einem möglichen nuklearen Winter konfrontieren würde. Mit anderen Worten: Mutual Assured Destruction (M.A.D.). Während aber Russland danach systematisch antiballistische Abwehrsysteme entwickelte und baute, konzentrierten sich die USA nach 9/11 – entgegen Bushs ursprüngliche Absicht – auf den Krieg gegen den Terror. „Eine neue, von der American Physical Society geförderte Studie kommt zu dem Schluss, dass die US-Systeme zum Abfangen ballistischer Interkontinentalraketen nicht einmal einen begrenzten Atomschlag abwehren können und dass es unwahrscheinlich ist, dass sie innerhalb der nächsten 15 Jahre zuverlässig funktionieren.“ Damit änderte sich aber die grundlegende strategische Situation, und es könnte sein, dass Russland – zwar unter großen Opfern – einen amerikanischen nuklearen Erstschlag abwehren könnte. Auch im Bereich der Überschallwaffen liegt Russland vorne, wie der ehemalige CIA-Mitarbeiter Larry Johnson berichtet. Bei all dem mag ein Großteil russische Propaganda mitschwingen; dass Russland heute ein rüstungstechnisch stärkerer Gegner ist als noch zu Gorbatschows Zeiten, behauptet jedoch nicht nur Johnson.

Kiesewetter und andere Befürworter der aktuellen Raketenstationierung „vergessen“ also nicht nur die lange Vorgeschichte, die zu dem russischen Mittelstreckenraketenbeschluss führte, sondern scheinen auch die reale nukleare Gefahr und ihren Gegner zu unterschätzen. Und – im Gegensatz zu den 1980ern – war beim jüngsten Nato-Treffen von Verhandlungen mit Russland zur Deeskalation der Situation keine Rede. Im Gegenteil: Gespräche mit Putin werden weiterhin ausgeschlossen, Òrban wird wegen seiner Friedensinitiative scharf kritisiert und als Ratsvorsitzender boykottiert und die Rhetorik gegenüber China wurde verschärft.

Stärke zu zeigen, mag ein umstrittenes politisches Instrument sein; wenn es dadurch am Ende gelingt, den Gegner an den Verhandlungstisch zu zwingen, und so eine heiße kriegerische Auseinandersetzung vermieden wird, stehen dahinter rationale Erwägungen, die die Welt friedlicher machen könnten.

Wer hingegen reine Eskalationspolitik betreibt, in der Auseinandersetzung mit einer Atommacht kompromisslos – ohne realistische Grundlage (Mit welchen „Präzisionswaffen“ wird Deutschland wohl Russland in die Knie zwingen?) – auf Sieg setzt, u.a. durch Pläne zur Aufnahme Japans in die Nato eine weitere Atommacht provoziert und damit den Konflikt ausweitet, statt ihn einzudämmen, handelt nicht nur verteidigungs-, sondern auch wirtschafts- und sozialpolitisch verantwortungslos.

Besuchen Sie Europa solange es noch steht.

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