Capital and Imperialism 2

Im April schrieb ich den folgenden Artikel (eine Vorversion veröffentlichte ich im Februar auf unserem Blog) in der Hoffnung, ihn anderswo veröffentlichen zu können. Leider kam es nicht dazu.

Die Entwicklungsländer des Südens und die Transformationsstaaten des ehemaligen Ostblocks brauchen „uns“, die westlichen Industriestaaten: unser Know-How, unsere Technologie, unser Kapital, unsere liberale Demokratie, unser Bildungssystem, unsere Entwicklungshilfe, unsere freiheitlichen Werte und Kultur, unsere Märkte.

Diese Selbstverständlichkeiten scheinen nun jäh in Frage gestellt, seitdem die große Wirtschaftskrise nicht, wie erwartet, in erster Linie das sanktionierte Land sondern die Sanktionierer selbst trifft, und der gesamte Süden zwar mehrheitlich Russlands Ukraine-Krieg verurteilte, sich aber trotz erheblichen Drucks weigerte, sich den Sanktionen anzuschließen, wie Michael Hudson hier erläutert.

Die ganze Welt isoliert Russland. Quelle: https://twitter.com/joostbroekers/status/1507745844644257806

Schon seit Beginn der Industrialisierung ist der westliche Kapitalismus vom Süden abhängig, schreiben Utsa und Prabhat Patnaik in ihrem Buch Capital and Imperialism1. Zweihundert (wenn nicht sogar fünfhundert) Jahre Dominanz und Überlegenheitsgewissheit haben das lediglich erfolgreich verschleiert.

Der Kapitalismus ging nicht nur historisch aus einem vorkapitalistischen Umfeld hervor, mit dem er interagierte und das er für seine eigenen Zwecke modifizierte, sondern seine Existenz und Expansion hängt bis heute von der Interaktion mit einem vor- bzw. nicht-kapitalistischem Umfeld ab. So lautet die Grundthese ihres Buches.

Wer den Kapitalismus, wie die meisten Ökonomen, auf die Elemente Kapital – Arbeit – Markt mit dem Staat als Schiedsrichter reduziere, so die Autoren, könne ihn nicht wirklich verstehen. Vielmehr habe dieses Wirtschaftssystem, wie besonders Rosa Luxemburg erkannte und Michal Kalecki später theoretisch untermauerte, schon immer, um funktionieren zu können, ein ‚außen‘ gebraucht und brauche es noch: den Staat, nicht-kapitalistisch organisierte gesellschaftliche Sektoren und vor allem die „Peripherie“, die Länder des Südens und deren noch nicht vollständig der Kapitallogik unterworfene Bevölkerungen und Wirtschaftsbereiche.

Dass es nicht nur um den materiellen Zugriff auf die Rohstoffe und die agrarischen Produkte dieser Länder sondern darüber hinaus immer auch um imperialistische Arrangements ging, ohne die wegen der inneren Widersprüche des Systems kapitalistische Profite und Wirtschaftswachstum nicht möglich gewesen wären, mag der Umgang mit ‚Putins‘ Russland zeigen. Dass Putin die vollständige Unterwerfung Russlands unter das neoliberale Regime verhinderte und ein Mindestmaß an staatlicher Kontrolle über die Rohstoffe des Landes sicherte, begründete seine Unterstützung durch große Teile der Bevölkerung, denn fast niemand möchte zurück in die 90er Jahre, als russischen und westlichen Oligarchen der unkontrollierten Zugriff auf die Reichtümer des Landes möglich war. Sie begründet aber auch die Feindschaft, die ihm der Westen heute entgegen bringt, dem friedliche Handelsbeziehungen eben gerade nicht ausreichen. Schließlich ist Russland alles andere als ein kapitalismusfeindliches Land. Zu viel Kapitalismus ist ja eher das, was Putins stärkste Kritiker im eigenen Land ihm vorwerfen. Aber dazu später mehr und zunächst zurück zum Buch.

Im ersten – theoretischen – Teil begründen die Autoren von einem marxistischen Standpunkt aus, warum der Kapitalismus seiner inneren Logik gemäß ohne ein ‚Außen‘ notwendig zur Stagnation tendiert. Da sie dabei über weite Strecken mit einer im Grunde neoklassischen Geldtheorie argumentieren, ist dieser Teil kritikwürdig.

Der größte Teil des Buches ist jedoch der historisch-analytischen Darstellung gewidmet, bei der die Autoren zeigen, wie konkrete Akteure in bestimmten Machtkonstellationen jeweils unterschiedliche Arrangements zwischen Zentren und Peripherie schufen, die Profitabilität und Wachstum ermöglichten, wie diese irgendwann nicht mehr funktionsfähig waren und dann durch neue abgelöst wurden. So schufen die Patnaiks eine Folie zur Betrachtung der Nord-Süd-Beziehungen, die es erlaubt, den großen Anteil des Südens an der Entfaltung des kapitalistisch erzeugten Reichtums qualitativ und quantitativ zu bewerten und gleichzeitig zu sehen, wie abhängig der Norden im Grunde vom Süden ist.

Trotz aller theoretischen Kritik sind die von den Autoren ausgemachten Herausforderungen für das System nicht zu bestreiten:

1. Die grundsätzliche Unsicherheit für die Kapitalisten, ob sie ihre Profite realisieren können, und die nicht garantierte effektive Nachfrage

Abhilfe ließe sich hier nur von außen schaffen, durch die Erschließung neuer Märkte im In- und Ausland, die gesamte Palette der Staatsaufträge, von Sozialleistungen über Infrastrukturprojekte bis zur Rüstung und Innovationen (wobei umstritten sei, ob diese wirklich Wachstum schaffen könnten, da z.B. das technisch Mögliche häufig erst in Kombination mit Staatsaufträgen oder anderen Boom-Faktoren zum Tragen gekommen sei).

2. Die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit um die jeweiligen Anteile am erzeugten surplus

Zu erklären wäre, wieso die lohndrückende Reservearmee in den Zentren schrumpfte und es den Arbeitern dort teilweise sogar gelang, ihren Lebensstandard über ihre Anteile am Produktionswachstum hinaus zu verbessern. Das sei nur möglich gewesen, so Utsa und Prabhat Patnaik, weil es anderswo, nämlich in den Staaten des Südens, eine riesige Arbeitslosen-Reserve gegeben habe und noch gäbe, deren Einkommen extrem nach unten gedrückt würden. Auf diese Weise sei es in den Metropolen gelungen, die Produktionskosten niedrig zu halten, trotz der Konzessionen des Kapitals an die Beschäftigten im eigenen Land.

3. Die Sicherung des Zugriffs auf günstige Rohstoffe

Es ist eine nach Meinung der Autoren völlig unterschätzte Tatsache, dass der Kapitalismus in den gemäßigten Breiten Europas entstand und sich von dort aus auf weitere gemäßigte Regionen, v.a. Nordamerika und Australien ausdehnte. In diesen Gegenden benötigt/e man zur Entwicklung der Wirtschaft nicht nur die mineralischen Rohstoffe sondern war/ist auch ganz besonders auf die nicht zu ersetzenden agrarischen Produkte des Südens angewiesen.Ohne diese hätte der Kapitalismus des Nordens von Anfang an weder die Ernährung seiner Bevölkerung noch die Rohstoffbasis für seine Industrie sicher stellen können. Den Boom der englischen Textilindustrie z.B. hätte es ohne indische Baumwolle nicht gegeben.

Die möglichst kostengünstige Aneignung der agrarischen Überschüsse der Tropen und Subtropen, und der damit verbundene Druck auf die Einkommen der dort lebenden Menschen, und die Reduzierung der ihnen zur Verfügung stehenden Anteile an diesen Produkten, bis hin zu Mangel- und Unterernährung, sei nicht nur empirisch zu beobachten und konkret berechenbar sondern bis heute eine notwendige Bedingung für den Fortbestand des kapitalistischen Systems.

Kommen wir nun zum Hauptgegenstand des Buches. Die Autoren definierten fünf Phasen des Kapitalismus mit jeweils unterschiedlichen imperialistischen Arrangements. Aus Sicht der Autoren ist ihre Beschreibung und Analyse im Buch, die im Folgenden zusammen gefasst wird, alles andere als vollständig. Das Thema sei komplex, und seine Erforschung stecke in den Kinderschuhen, u.a. weil die Sicht der Kolonisierten in den Wissenschaften unterrepräsentiert sei, um es vorsichtig auszudrücken.

Aus kapitalistischer Sicht seien die kolonialen Regimes des 19. Jahrhunderts bis zum 1. Weltkrieg zur Lösung der systeminhärenten Probleme ideal gewesen. Für die indigenen Bevölkerungen waren sie eine Katastrophe, deren genaue Bezifferung noch aussteht.

Während sich die Siedler-Kolonien der gemäßigten Regionen mit Auswanderern aus den Metropolen füllten, die dort neue kapitalistische Hochburgen aufbauten und die Ureinwohner verdrängten und ausrotteten, wurden in den Kolonien des Südens die Bevölkerungen über unterschiedliche Regimes, z.B. die Einführung von Steuern, dazu gezwungen – so gut wie umsonst – für die Kolonialherren zu arbeiten.

Die bäuerlichen Überschüsse wurden abgeschöpft und konnten nicht mehr den Handwerkern zugute kommen. In Verbindung mit anderen Maßnahmen, z.B. Einfuhrverbote der ‚Mutterländer‘ für Fertigprodukte aus den Kolonien und Überschwemmung von deren Märkten mit den eigenen überschüssigen Waren, wurde so das bestehende vorkapitalistisch produzierende Gewerbe vollständig zerstört, die dort arbeitenden Menschen ‚freigesetzt‘. Mehrere Hungerkatastrophen in Indien waren die Folge. (Abdulrazak Gurnah, der tanzanische Gewinner des Nobelpreises für Literatur 2021, schildert in seinen Romanen Ähnliches für die deutschen Kolonien Ostafrikas).

Eine weitere Folge war die riesige Migrantenwelle der Tropen, bei der – parallel zur Migrantenwelle des Nordens – die ‚Überflüssigen‘ der dicht besiedelten südlichen Länder Asiens zur Arbeit in die Gegenden wanderten, in denen Arbeitskräfte fehlten, und die dort die Sklavenarbeit ergänzten oder ersetzten.

Doch die kolonialen Regimes wurden brüchig. Die Weltwirtschaftskrise 1929 könne, so die Autoren, nur hinreichend erklärt werden, wenn man dies mit in Betracht zöge. Es habe sich um eine Überproduktionskrise gehandelt, die zu einem großen Teil dadurch entstanden sei, dass die Aufnahmefähigkeit der Märkte der Kolonien, u.a. wegen der niedrigen Einkommen der dortigen Bevölkerungen und neuer Konkurrenten, v.a. Japan, an ihre Grenzen gestoßen war. Zudem wuchsen dort selbstbewusste Bourgeoisien heran, die den nationalen Widerstand gegen die Kolonialherrschaft organisierten, und auch in den Metropolen wurde die Kritik an den Grausamkeiten dieser Regimes lauter.

So sei die Periode zwischen den Weltkriegen eine Zeit der Auflösung des kolonialistischen Arrangements gewesen. Sie war geprägt durch die Suche nach einem neuen Nachfrageschub, der nur durch den Staat erfolgen konnte, was u.a. zu Roosevelts New Deal führte, und den Widerstand, vor allem des Finanzkapitals, gegen mehr staatliche Wirtschaftstätigkeit, der sich erst mit zunehmenden Rüstungsausgaben abschwächte.

Vor allem in Europa, wo nach dem 2. Weltkrieg der Staatsdirigismus das wachstumsstarke ‚goldene Zeitalter‘ der Wohlfahrtsstaaten begründete, aber auch in den USA, wo der Militär-Keynesianismus vorherrschte, löste man das Problem der Überproduktion über zusätzliche staatliche Nachfrage.

Durch starke Gewerkschaften und aktive Lohn- und Einkommenspolitik gelang es, weitgehende Vollbeschäftigung zu etablieren.

Das wurde auch durch Rohstoffpreise ermöglicht, die über einen längeren Zeitraum hindurch überraschenderweise relativ niedrig blieben. Zu erklären sei dies einerseits dadurch, dass es in den de-kolonialisierten Staaten gelang, u.a. über staatliche Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der bäuerlichen Bevölkerungen die Agrarproduktion auszuweiten. Andererseits machten sich die Länder der 3. Welt im Bemühen um Devisen zur Einführung von Fertigwaren beim Verkauf von Rohstoffen gegenseitig Konkurrenz.

Aber diese Periode sollte nicht ewig dauern. Und so stiegen in den 70er Jahren die Rohstoffpreise stark an, was dann, neben der Stärke der Arbeitnehmer, die es ihnen ermöglichte, Lohnerhöhungen durchzusetzen, die über dem Produktivitätsanstieg lagen, mit zu der bekannten Krise geführt habe.

Gleichzeitig waren enorme Geldsummen in den Banken angehäuft wurden, durch Ersparnisse aus dem Wirtschaftsboom, die riesigen amerikanischen Militärausgaben und die hohen Öleinnahmen, die die Taschen einiger Weniger füllten. Die Kapitalbesitzer drängten auf die Aufhebung nationaler Regulierungen, um weltweit Anlagemöglichkeiten nutzen zu können, und konnten sich damit durchsetzen. So formierte sich das globalisierte Finanzkapital, dem es nach der Krise gelang, als Ausweg das Zeitalter der Globalisierung mit seinen neoliberalen Regimes einzuleiten. Man setzte nun nicht auf Vollbeschäftigung sondern auf eine fiktive natürliche Arbeitslosenquote; die Ärmsten der Gesellschaft wurden zum Puffer der Geldwertstabilität, deren Erhalt zum wichtigsten geldpolitischen Ziel wurde.

Fiskalpolitik unter demokratischer Kontrolle wurde durch die Geldpolitik technokratischer Zentralbanker ersetzt. Es ging nun hauptsächlich darum, ein möglichst investitionsfreundliches Klima zu schaffen, die innenpolitischen Spielräume verkleinerten sich, welche Partei regierte, machte keinen wesentlichen Unterschied. Die Rolle des Staates wandelte sich vom Unterhändler eines Klassenkompromisses hin zum Agenten des Finanzkapitals.

Zum ersten Mal wurde die strikte Trennung zwischen Peripherie und Zentrum aufgehoben, indem Teile der Produktion in den Süden verlegt wurden. So entstanden die bekannten sozialen Probleme dort und der Druck auf die Löhne in den Zentren, wo trotz erhöhter Produktivität keine wesentlichen Reallohnzuwächse zu verzeichnen sind.

Im Süden konnte sich jedoch, wie die Patnaiks schreiben, kein geschlossenes Proletariat formieren, die Löhne blieben extrem niedrig, die Arbeiter*innen dort konnten ihre Verhandlungsposition nicht verbessern, da dort eine riesige Reservearmee existiert. Ihre Lage ist prekär, sie pendeln zwischen klein-bäuerlicher Produktion, Kleingewerbe, das der Industrie zuarbeitet, und Fabrikarbeit; viele versuchen, allen Widerständen zum Trotz nach Norden auszuwandern, wie die Flüchtlingskrise zeigt.

Die u.a. auch über IWF und Weltbank erzwungenen Austeritätsmaßnahmen machten viele soziale Errungenschaften in diesen Ländern wieder rückgängig. So würden die Einkommen im Süden niedrig gehalten. Mit gravierenden Folgen. Obwohl z.B. die weltweite Getreideproduktion nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt gehalten hat, wie die Autoren am Beispiel des durchschnittlichen Kalorienverbrauchs vorrechnen, sind die Preise relativ stabil. Denn das geringere Angebot werde kompensiert durch den durchschnittlich niedrigeren Nahrungsmittelkonsum der Bevölkerung des Südens.

Niedrige Löhne ließen die Nachfrage im Norden schrumpfen, die nicht durch die extrem gestiegenen Einkommen der oberen 10 % ausgeglichen wurde. Nachfrage werde über die Verschuldung großer Bevölkerungsteile, wie z.B. in den USA, oder über Exportüberschüsse, wie z.B. in Deutschland, angetrieben. Die Wirtschaft stagniert. Manches was als Wachstum deklariert werde, sei in Wirklichkeit lediglich eine Umwandlung vormals nicht-kapitalistisch organisierter Bereiche in kapitalistische Formen durch Privatisierung sozialer Institutionen und Infrastruktur.

Wachstum fände in Form von Blasen statt.

Das Platzen der Immobilienblase und die Finanzkrise im Jahre 2008 machten es offensichtlich: Der Kapitalismus befindet sich in der Sackgasse.

Es handele sich um eine Dauerkrise, wie die Autoren feststellen: Jede Investitionsentscheidung trage die Gefahr der Überakkumulation in sich, staatlich finanzierte Nachfragepolitik werde durch das Finanzkapital nicht toleriert, denn es wäre ja damit überflüssig. Neue Märkte, die eine evtl. Überproduktion aufnehmen könnten, seien nicht in Sicht.

Auf Dauer würden die Rohstoffpreise trotz des Lohndruckes in den Ländern des Südens steigen, denn die Nutzflächen seien ausgeschöpft. Die Erhöhung der Erträge durch bessere Bewirtschaftung oder Ausweitung der Flächen würde ein hohes Maß an organisiertem staatlichem Handeln erfordern, was aber durch das mit den Regierungen verflochtene Finanzkapital verhindert werde.

Ohne die Eindämmung der Macht des Finanzkapitals sei kein Ausweg aus dieser Krise möglich. Nach Meinung der Autoren kann der nur gefunden werden, indem einzelne Nationalstaaten oder ein Zusammenschluss mehrerer Staaten ihre wirtschaftliche Souveränität zurück gewinnen, und die Regierungen politisch nicht nur zur Rettung des Kapitalismus vor sich selbst aktiv werden, sondern gleichzeitig auch zur Lösung der sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Probleme ihrer Länder. Mehr Sozialismus, weniger Kapitalismus sei der Ausweg.

Nicht nur in den Ländern des Südens sei das ein sehr schwieriges Unterfangen. Während am Ende der Kolonialzeit die Eliten an vorderster Front des nationalen Widerstands gestanden hätten, gehörten sie heute zu den Profiteuren der Globalisierung und täten alles, um Veränderungen zugunsten der Bevölkerungsmehrheit zu verhindern.

Diese wiederum sei kulturell und ideologisch oft nicht im Sinne liberaler Ideale progressiv, sondern eher traditionell und / oder religiös orientiert und empfände die Weltoffenheit der Globalisierung als Bedrohung. So käme es, dass der Widerstand sich häufig rechts-populistisch organisiere, obwohl die Anführer dieser Bewegungen sich mit dem Finanzkapital verbündeten und gerne Sündenböcken die Verantwortung für die Leiden der Bevölkerung zuschöben. Und das sei in den Metropolen nicht anders.

Weltweit empfänden viele Linke jedoch die einfachen Menschen als hoffnungslos rückständig und hätten oft große Probleme damit, nationalen Widerstand zu organisieren, weil sie Nationalismus mit imperialistischen Kriegen und Faschismus verbänden. So stellten sie sich objektiv auf die Seite des Finanzkapitals. Denn dieses sei ja inzwischen international und nicht mehr national organisiert, so die Autoren.

Die Wirklichkeit scheint sich ganz anders zu entwickeln als es die Autoren bei Veröffentlichung ihres Buches erwarteten.

Der Ökonom Michael Hudson schrieb, er habe erwartet, dass das Ende des imperialen Dollar-Imperiums dadurch eingeleitet werden würde, dass andere Länder nach und nach den Dollarstandard aufgäben. Nun hätten US-Diplomaten dieses Ende über die Sanktionen gegen Russland selbst eingeleitet. Damit hätten sie (schon seit 2014) Russland dazu gezwungen, eine eigene Agrar- und Industrieproduktion aufzubauen, was den gleichen Effekt wie Schutzzölle gehabt hätte. Dieser Effekt wird sich mit dem Ukraine-Krieg verschärfen und, wie der russische Ökonom Glaziew meint, zu tektonischen Verschiebungen in der russischen Politik und Wirtschaft führen. Es sei zu erwarten, dass nun das Ende der Abhängigkeit von ausländischem Kapital und Technologie, des Einflusses der Oligarchen, pro-westlicher Parteien und Medien bevorstehe.

Im Interview gefragt, ob Putins Angriff auf die Ukraine auf imperialistische Bestrebungen zurückzuführen sei, antwortet Prabhat Patnaik, dass er keine Anzeichen dafür sehe. (In einem anderen Interview behauptet er übrigens das Gleiche für China.) Denn es werde keine Unterwerfung eines anderen Landes aus systembedingten Wirtschaftsinteressen angestrebt. Putin sei auch weder Sozialist noch größenwahnsinniger Führer mit Großmachtinteressen, sondern im Grunde ein Liberaler, der die bestehenden Verhältnisse gerne weiter aufrecht erhalten hätte, aber aufgrund russischer Sicherheitsinteressen, der Bedrohung der Souveränität Russlands durch die NATO, gezwungen worden sei, auch in wirtschaftlicher Hinsicht mehr nationale Unabhängigkeit anzustreben.

So scheint sich heute unter Führung von Russland und China ein starkes Gegenmodell zum bestehenden westlich dominierten Globalisierungssystem zu formieren, dem sich nach und nach weitere Länder anschließen werden, vermutlich schneller als man denkt.Während die Länder des Südens in den 70er und 80er Jahren nicht die Kraft hatten, diesem System entgegenzutreten, bilden China und Russland, wie es aussieht, nun einen autarken Kern in Eurasien, dem dies über mixed economies, in denen der Staat die Wirtschaft kontrolliert aber nicht gängelt, gelingen könnte.

Die dazu gehörigen internationalen Beziehungen beschreibt der russische Außenminister Lawrow bei einer Pressekonferenz wie folgt:

„Eine neue Realität entsteht: Die unipolare Welt gehört unwiderruflich der Vergangenheit an, eine multipolare Welt nimmt Gestalt an. […] In dieser Realität wird mehr als eine Macht „regieren“ – es wird notwendig sein, zwischen allen Schlüsselstaaten zu verhandeln, die heute einen entscheidenden Einfluss auf die Weltwirtschaft und -politik haben. Gleichzeitig sorgen diese Länder, die sich ihrer besonderen Situation bewusst sind, für die Einhaltung der Grundprinzipien der UN-Charta, einschließlich des grundlegenden Prinzips der souveränen Gleichheit der Staaten. Niemand auf dieser Erde sollte als unbedeutender Akteur betrachtet werden. Alle sind gleich und souverän.“ [Übers. d. V.]

Bricht damit ein neues, wunderbares Zeitalter an, zumindest in Eurasien? Vorerst wohl nicht. Die Machtpositionen der Schlüsselstaaten sind alles andere als ausbalanciert. Dass diese Balance nicht nur am Verhandlungstisch sondern auch außerhalb der Ukraine kriegerisch ausgependelt wird, steht zu befürchten. Was das für die ‚kleinen Länder‘ dazwischen bedeutet, kann man nur ahnen. In vielen Ländern der Welt ist aktuell Nahrungsmittelknappheit bis hin zu Hungersnöten zu erwarten. Und, sagt Patnaik, innenpolitisch sei nationale Souveränität lediglich die notwendige Voraussetzung dafür, dass es den Menschen wirtschaftlich, sozial und politisch gut gehen könne. Dieses Ziel sei nur über die Klassenauseinandersetzungen im eigenen Land zu erreichen.

Und im Westen? Dort sind in diesem Abkoppelungsprozess die Aussichten für die Bevölkerungen trübe, die Industrieproduktion wird einbrechen, der Lebensstandard wird erheblich sinken, das politische Klima wird rigide. Die Profite der Superreichen, v.a. des US-Kapitals sind vorerst nicht gefährdet, ganz im Gegenteil. Sie profitieren von hohen Energiepreisen, steigenden Rüstungsausgaben u.v.m. Auch hier gilt, dass die betroffenen Menschen für notwendige Veränderungen selbst kämpfen müssen.

1 Capital and Imperialism: Patnaik, Utsa; Patnaik, Prabhat; Monthly Review Press. New York 2021. Kindle-Version. Die indischen marxistischen Ökonomen, Kollegen und Eheleute Utsa und Pranhat Patnaik lehrten bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 2010 am Centre for Economic Studies and Planning der School of Social Sciences der Jawaharlal Nehru University in Neu Delhi.

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