Wahrheit und Macht

Dazu einige übersetzte Ausschnitte aus einem Artikel von Abby Cartus: Candle in the Wind (der ganze Text ist lesenswert).

„Eine der traurigsten Lehren der Geschichte ist diese: Wenn wir lange genug getäuscht worden sind, neigen wir dazu, jeden Beweis für die Täuschung abzulehnen. Wir sind nicht mehr daran interessiert, die Wahrheit herauszufinden. Der Schwindel hat uns gefangen genommen. Es ist einfach zu schmerzhaft, sich einzugestehen, dass man uns betrogen hat, selbst uns selbst gegenüber. Wenn man einem Scharlatan einmal Macht über sich gegeben hat, bekommt man sie fast nie wieder zurück.“ Carl Sagan: The Demon-Haunted World: Science as a Candle in the Dark (1995)

[…]

Um dem zu begegnen, entwickelte Sagan ein „Kit zur Erkennung von Schwachsinn“. Das ist im Wesentlichen eine popularisierte wissenschaftliche Methode, die der Leser anwenden kann, um echte Wissenschaft von Pseudowissenschaft und Hokuspokus zu unterscheiden, die Logik zu nutzen, um Aberglauben zu entlarven und schließlich das kleine Licht, der Vernunft gegen die bedrückende, eindringende Dunkelheit der Unwissenheit und des Wahns wachsen zu lassen. […]

Aber diese Art von „scicomm“ funktioniert … nicht wirklich …

Die Sache ist die, und ich denke, wir müssen in dieser Hinsicht ehrlich zu uns selbst sein, die MAHA-Anhänger (Make Amerika Healthy Again) haben mehr als einen Punkt. Die eigentliche Schwierigkeit dieser Bewegung besteht darin, dass sie reale und ernsthafte Kritik an realen und ernsthaften Problemen mit opportunistischem Woo-woo-Bullshit verquickt. Wir (als einigermaßen wissenschaftlich gebildete Menschen) können diese Stränge entwirren und können den Leuten erzählen, was wir dabei herausgefunden haben, und die Leute bitten, uns zu vertrauen, weil wir eine teure Ausbildung haben, die uns gut darin macht, die Stränge zu entwirren. Ich denke jedoch, dass dies die tieferen Wahrheiten ignoriert, die MAHA auf einer emotionalen und rhetorischen Ebene anspricht, selbst wenn sie auf einer wörtlichen Ebene Unwahrheiten verbreiten, indem sie verdammte Nahrungsergänzungsmittel anpreisen und Rohmilch fördern. […]

Zum Beispiel ist RFK Jr. ein ernsthafter Impfgegner. Ungeachtet seiner Versuche, nach seiner Ernennung seine ungeheuerlicheren Aussagen zurückzunehmen, ist er eine langjährige und sehr sichtbare Figur in der Anti-Vax-Bewegung, und er hat völlig falsche Vorstellungen von der Impfstoffwissenschaft. Was er kürzlich gegenüber NPR sagte, dass das FDA-Verfahren für die Zulassung von Impfstoffen „große Mängel“ aufweise, ist ebenfalls falsch. Aber im Kern der Unwahrheit steckt eine wirklich unangenehme Wahrheit. Das Impfstoffverfahren der FDA ist in Ordnung, aber das liegt nicht daran, dass die FDA eine gute Institution ist. Die FDA ist korrupt. Wem kann man ernsthaft vorwerfen, zu glauben, dass der Prozess der Impfstoffzulassung suspekt ist, nachdem die FDA buchstäblich mit Purdue Pharma konspirierte, um Opioid-Schmerzmittel in betrügerischer Absicht zu genehmigen und aggressiv an die Bevölkerung zu vermarkten, was der Dokumentarfilmer Alex Gibney als das Verbrechen des Jahrhunderts bezeichnete? Wie kann uns die „Erkennung von Schwachsinn“ hier weiterhelfen?

In einer zeitgleichen Rezension von The Demon-Haunted World für die New York Review of Books griff der Evolutionsbiologe Richard Lewontin einen wichtigen Kritikpunkt an Sagan auf.[…] Diese Passage ist eine gute Zusammenfassung des Kerns von Lewontins Standpunkt:

„Carl Sagan hat, wie sein kanadischer Kollege David Suzuki, außerordentliche Energie darauf verwendet, die Wissenschaft einem Massenpublikum nahezubringen. Dabei ist er mit einem Widerspruch konfrontiert, für den es keine klare Lösung gibt. Einerseits wird uns die Wissenschaft als ein Modell der rationalen Schlussfolgerung aus öffentlich überprüfbaren Fakten nahegelegt, das von der Tyrannei einer unvernünftigen Autorität befreit ist. Andererseits ist es angesichts des immensen Umfangs, der inhärenten Komplexität und der kontraintuitiven Natur wissenschaftlicher Erkenntnisse für niemanden, auch nicht für fachfremde Wissenschaftler, möglich, die intellektuellen Wege nachzuvollziehen, die zu wissenschaftlichen Schlussfolgerungen über die Natur führen. Letzten Endes müssen wir uns auf die Experten vertrauen, und diese wiederum nutzen ihre Autorität als Experten und ihre rhetorischen Fähigkeiten, um sich unsere Aufmerksamkeit und unseren Glauben an Dinge zu sichern, die wir nicht wirklich verstehen.“

So schließt Lewontin seine Rezension ab:

„Gewissenhafte und durchaus bewundernswerte „Wissenschafts-Populärisierer“ wie Carl Sagan nutzen sowohl Rhetorik als auch Fachwissen, um den Geist der Massen zu formen, weil sie wie der Evangelist Johannes glauben, dass die Wahrheit euch frei machen wird. Aber sie irren sich. Es ist nicht die Wahrheit, die Sie frei macht. Es ist der Besitz der Macht, die Wahrheit zu entdecken. Unser Dilemma ist, dass wir nicht wissen, wie wir diese Macht vermitteln können.“

Ich denke und fürchte, dass MAHA weiß, wie man diese Macht erzeugt.

[…]

In der gestrigen Folge von Conspirituality, in der es genau um dieses Thema ging, hörte ich einen Clip von einer „Mama-Bärin“, die erklärte, dass sie zwar immer den Demokraten zugeneigt war, aber Trump vor allem deshalb gewählt hat, weil er sich mit RFK Jr. verbündet hat, und das, weil sie sauer ist, dass die Vorschule ihrer Tochter den Kindern tagsüber zuckerhaltige Fruchtsnacks gibt.

Wenn Sie so ticken wie ich, ist die Versuchung groß, zu denken: „Wenn Sie für Trump gestimmt haben, weil Sie über Zuckersnacks sauer sind, sind Sie ein verdammter Idiot.“ Aber so zu denken, verschließt uns den Blick für das, was hier wirklich vor sich geht. (Dies ist einer der vielen Bereiche, in denen die Rechte viel klüger ist als die Linke; wir auf der Linken neigen dazu, die politischen Ansichten der Menschen als statisch zu behandeln und die Menschen selbst als radioaktive Unberührbare zu behandeln, wenn sie jemals in die Nähe kommen, eine politische Position zu unterstützen, die scheiße ist. Die Rechten sind in dieser Hinsicht viel ökumenischer und verstehen viel besser, dass die Überzeugungen und Beschwerden der Menschen fließend und kontextspezifisch sind. Wir täten gut daran, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken und von ihnen zu lernen).

Wir – damit meine ich mich selbst und andere Menschen, die mit mir in der schwachen „linken“ öffentlichen Gesundheitspolitik in den Jahren 2020-2022 verbunden sind – haben diese ganze tektonische Verschiebung, die sich direkt vor unseren Augen abspielt, völlig übersehen. Wir waren voreingenommen und unaufmerksam gegenüber den realen Erfahrungen der Menschen, wir sprachen nur von unserer Interpretation der „Wissenschaft“ und kümmerten uns nicht um die tatsächlichen materiellen Bedingungen im Leben der Menschen – um die Frustration und Verzweiflung, die viele Menschen wirklich als Folge der Schulschließungen empfanden, wie sie in den real existierenden Vereinigten Staaten tatsächlich stattfanden, was auch immer die Wissenschaft der Aerosolübertragung oder die Ideale der öffentlichen Gesundheit sagen. Wir hatten Recht, wir hatten die richtigen Informationen und die richtigen Werte auf unserer Seite, und ich weiß nicht, ob ich unbedingt etwas anders gemacht hätte. Aber gleichzeitig waren wir viel zu voreingenommen angesichts der gesellschaftlichen Bedingungen und Kräfte, die sich gegen unsere perfekten Lösungen stellten – wir hatten keine Mittel, um den Menschen zu helfen, mit den Schließungen umzugehen, und angesichts der Vernachlässigung durch den amerikanischen Staat endeten wir damit, dass wir die Menschen immer wieder ermahnten, anders zu glauben und zu fühlen. Auch wenn ich mich nicht so fühlte, weil ich mich in meinem eigenen Kontext als Doktorand ohne Macht verstand, war ich für die meisten dieser Leute nur ein weiterer dieser verdammten Experten. Es ist mir peinlich, das zuzugeben, weil ich so viel davon schwärme, dass ich Lewontin liebe (ich kann nichts dafür!), aber letztendlich handelten wir nach Sagans Prämissen darüber, was Wissenschaft ist und wozu sie dient. Es ist wirklich keine Überraschung, dass das nicht funktioniert hat und dass wir uns immer weiter von dem entfremdet haben, was wirklich vor Ort passiert.