Europa und der Ukrainekrieg: Chancen und Herausforderungen für eine zukünftige Friedens- und Sicherheitspolitik

Das ist der Titel des im Juni erschienenen Buches eines Autorenkollektivs herausgegeben von Götz Neuneck. Laut Klappentext vereint das Buch

fünf Aufsätze von Mitgliedern der Studiengruppe „Frieden und Europäische Sicherheit“ der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler, die Informationen und Argumente liefern, um die Komplexität des gegenwärtigen Ukrainekrieges besser zu verstehen, die öffentliche Diskussion zu versachlichen und realistische Optionen für eine Beendigung des Krieges sowie für eine stabile Nachkriegsordnung vorzubereiten.

Die Beiträge sind von Helmut W. Ganser (Brigadegeneral a.D., Diplom-Psychologe und -Politologe), Rüdiger Lüdeking (Botschafter a.D.), Hans-Jochen Luhmann (Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie), Wolfgang Richter (Oberst a.D. und Associate Fellow beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik, GCSP) und Jürgen Scheffran (em. Professor für Integrative Geographie der Universität Hamburg).

Der Band endet mit 21 Schlussfolgerungen, die (mit Stand März 2024) das Ergebnis eines intensiven Diskussionsprozesses im Rahmen des Autorenkreises darstellen.

Es folgt eine Zusammenfassung dieser Schlussfolgerungen. Über Kommentare dazu würde ich mich freuen.

21 Schlussfolgerungen der Autoren aus ihrem Buch „Europa und der Ukraine-Krieg“ (Stand März 2024)

  1. Russlands Angriff auf die Ukraine ist völkerrechtswidrig

Dass auch der Westen Angriffskriege geführt hat, ist keine Rechtfertigung. Durch diesen Krieg darf kein weiterer falscher Präzedenzfall geschaffen werden. Aber:

Die Ukraine kämpft nicht stellvertretend für den Westen, sondern um die eigene Souveränität. Und:

Es ist eine „normative Überhöhung“, den Krieg zum Kampf zwischen Demokratien und Autokratien hochzustilisieren. Auch das gefährdet den Frieden. Außerdem:

Es ist falsch, nur auf militärischen Sieg zu setzen, das erhöht die Kriegsgefahr in Europa.

 

  1. Die USA und die Nato müssen sich der Mitverantwortung für das zerstörte Verhältnis zu Russland stellen.

Dazu gehören insbesondere:

  • Die Nato-Osterweiterung,
  • die Nichtberücksichtigung der erklärten russischen Interessen und
  • die Aufkündigung aller Rüstungskontrollverträge schon vor 2022.
  • Das zentrale Versäumnis ist, die Ignorierung des 1999 postulierten Prinzips, das eigene Sicherheitsinteressen nicht zulasten der Partner gestärkt werden dürfen.

Dieser Kontext muss bei der Konzipierung zukünftiger Eckpfeiler der europäischen Sicherheitspolitik mitberücksichtigt werden.

 

  1. Ein Ende des Krieges ist nicht absehbar, beide Seiten unterlagen strategischen Fehleinschätzungen.

Russland unterschätzte zu Beginn die Widerstandsfähigkeit der Ukraine.

Der Westen hat die Wirkung der Sanktionen und der eigenen Waffenlieferungen überschätzt.

Der globale Süden hat entgegen der Erwartungen Russland nicht isoliert.

Die europäischen Marktwirtschaften können kurzfristig nicht genügend Waffen produzieren, und

die Lieferungen stehen in Konkurrenz zum Eigenbedarf an Abschreckungspotential.

 

  1. Diese strategische Situation müssen Staaten, die sich als Nichtkriegsparteien definieren, bei der Definition von Kriegszielen berücksichtigen.

Ohne westliche Waffen kann die Ukraine nicht durchhalten, deren künftige Lieferung ist ungewiss, besonders im Falle eines Wahlsiegs Trumps.

Die EU muss also eigenständig handeln, sonst ist der Zusammenhalt der Nato gefährdet.

 

  1. Je länger der Krieg, desto größer die Opfer und die negativen politischen Folgen für Europa und die globale Sicherheit.

Keine der beiden Seiten kann einen vollständigen militärischen Sieg erreichen. Aber:

Das ressourcenreiche Russland ist im Abnutzungskrieg begünstigt, eine ukrainische Niederlage kann nicht ausgeschlossen werden.

Hoffnungen auf wundersame Wendungen sind keine Strategie. Mit der Höhe der Verluste wächst auf beiden Seiten der Druck zur Ausweitung der Kriegsziele.

 

  1. Ein baldiger „Siegfrieden“ der einen oder anderen Seite ist nach 2 Kriegsjahren unwahrscheinlich geworden.

Das Hauptproblem der Ukraine ist der Mangel an Soldaten. Den könnte der Westen nur ersetzen, wenn er selbst Kriegspartei würde. Deswegen ist die Strategie der „Kriegsverlängerung ohne Verhandlungsansätze“ nicht im Interesse der Ukraine.

 

  1. Der militärische Erfolg der Ukraine über Russland sollte nicht als zwingende Voraussetzung für eine dauerhafte Friedenslösung gesehen werden.

Die Diskussion in Deutschland ist zu eindimensional nur auf Waffenlieferungen ausgerichtet.

Der tiefgreifende Konflikt zwischen den Kriegsparteien ist jedoch grundsätzlich nicht militärisch lösbar. Und:

Für die Zeit nach dem Krieg benötigt man tragfähige Gedanken zu einer neuen Sicherheitsordnung.

 

  1. Schon jetzt muss über künftige Friedensverhandlungen diskutiert werden.

Es ist inakzeptabel solche Forderungen zu diskreditieren.

Die komplexen Interessenlagen aller Beteiligten müssen berücksichtigt werden. Deswegen bedarf es eines breiten nationalen und internationalen gesellschaftlichen Dialogs über die Problematik.

Auch informelle und nicht öffentliche Kanäle müssen geöffnet werden und bleiben.

 

  1. Wir brauchen Waffenstillstandsverhandlungen mit der Perspektive einer nachhaltigen Friedenslösung.

Die Verhandlungspositionen können von beiden Seiten zurzeit kaum auf dem Schlachtfeld verbessert werden, sondern solche Versuche erhöhen nur die Verluste.

Zurzeit sind die jeweils formulierten Waffenstillstandsbedingungen für die andere Seite unannehmbar. Berücksichtigt werden müssen die 3 Konfliktebenen:

  1. Geostrategisches Gleichgewicht zwischen den USA und Russland,
  2. Russlands Interesse, die geostrategische Einbindung der Ukraine in westliche Sicherheitsstrukturen zu verhindern (kulturelle Bindungen, Schwarzmeerflotte)
  3. Umgang der Ukraine mit ihren russischsprachigen Bevölkerungsteilen.

Nötig ist die Einbindung von G7, der USA, BRICS und Afrikanischen Union.
Verhandlungsziel für die USA: vereinbartes nuklear-strategisches Gleichgewicht
Verhandlungsziel EU: stabiles Sicherheitsumfeld

 

  1. Diplomatie muss Kompromisswege eruieren, die die Eskalationsgefahren mindern und die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine wahren.

Blaupause könnte der in Istanbul 2022 erarbeitete Vorschlag sein. Allerdings haben die Gebietsannexionen Russlands die Kompromisshürden stark erhöht.

Beachtet werden sollten auch die Vorschläge aus dem Globalen Süden (Dschidda-Prozess).

 

  1. Es ist unmoralisch, die Ukrainer für das Interesse des Westens an der Schwächung Russlands sterben zu lassen. Weitere Schritte, die den Krieg eskalieren würden, sind unverantwortlich.

Daraufhin müssen Waffenlieferungen an die Ukraine und die Freigabe ihrer Verwendungsmöglichkeiten überprüft werden.

 

  1. Es geht nicht nur um eine europäische Friedensordnung, sondern um einen grundlegenden Umbruch der globalen Sicherheitsarchitektur.

Die EU muss diese Entwicklung mitgestalten.

Ziele: regelbasierte Weltordnung für ein friedliches Miteinander und die ökonomische Entfaltung aller Staaten ohne Gewalt und Einschüchterungsversuche.

Russland muss gleichberechtigter Partner sein, dessen Sicherheitsinteressen berücksichtigt werden.

Eckpfeiler:

  • Bewahrung des Völkerrechts
  • Erneuerung der Rüstungskontrolle
  • Stärkung der Abschreckung

 

  1. Die Konzentration der Nato auf die kollektive Verteidigung der Ost Achse ist nach dem russischen Angriff auf die Ukraine folgerichtig und notwendig.

Die Bundeswehr muss dazu wesentlich aufpoliert werden. Dazu sind mindestens 2% des BSP vermutlich zu wenig. Aber:

Qualität und die tatsächlichen militärischen Fähigkeiten sind entscheidend, nicht das Geld, das möglichst effizient einzusetzen ist. Voraussetzungen:

  • Bedrohungsanalyse
  • Maßnahmen zur Stärkung der Krisenstabilität (?)

 

  1. Die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht sollte geprüft werden.

Gründe:

  • Personalmangel der Bundeswehr
  • Für den Ernstfall benötigte Reserve an ausgebildetem Personal
  • „Bürger in Uniform“ besser für eine auf Landes- und Bündnisverteidigung ausgerichtete Armee geeignet als Berufsheer

 

  1. Die EU muss ihre strategische Autonomie und ihre Selbstbehauptungskräfte stärken

Nötig ist die Überwindung ihrer Rolle als sicherheitspolitischer Juniorpartner der USA.

Gründe:

  • Unsichere innenpolitische Entwicklung in den USA
  • Größere Rivalität der Großmächte USA, Russland, China
  • Wachsende Bedeutung des Globalen Südens

 

  1. Die Nato muss in Russland ein abschreckendes nukleares Gleichgewicht gegenüber Russland aufrechterhalten.

Russlands nukleares Kurz- und Mittelstreckenpotential ist 10x größer als das der Nato.

Die Androhung des Kremls zum Einsatz von Atomwaffen ist besorgniserregend.

Die Nato als Bündnis hat genügend Abschreckungspotential.

Nukleare Teilhabe und Mitspracherecht der US-Bündnispartner bei Stationierung und evtl. Einsatz von US-Waffen sind folgerichtig.

Abzulehnen sind die amerikanischen Konzepte der Flexibilisierung nuklearer Optionen (conventional-nuclear integration), weil sie die Schwelle zum Einsatz von Nuklearwaffen senken.

 

  1. Abschreckung ohne vereinbarte Rüstungskontrolle führt zu ungebremstem Wettrüsten, Instabilität und dauerhaften Krisen.

Das Handeln der Bundesregierung sollte konsequent am Ziel sicherheitspolitischer Stabilität und der Verhinderung eines militärischen Konflikts ausgerichtet sein. Sie sollte sich für die Kontrolle konventioneller und nuklearer Waffen einsetzen.

 

  1. Der Dialog zur Rüstungskontrolle muss dringend wieder aufgenommen werden.

Nur durch Rüstungskontrollen können überschießende Verteidigungsausgaben verhindert und Mittel für die zu bewältigenden Menschheitsherausforderungen freigesetzt werden.

 

  1. Langanhaltende Kriege in Gaza und der Ukraine erschweren politisch die Eindämmung und Bewältigung nicht-militärischer Konflikte und multipler Krisen: Klimawandel, Migration, Wirtschaftskrisen, Pandemien und notwendige soziale Transformationsprozesse.

 

  1. Sanktionen müssen strikt beobachtet und regelmäßig rejustiert werden.
    Sie sollen rückholbar und nicht ausschließlich strafend sein. Die Folgen für die eigene Wirtschaft sind mitzudenken. Sie gehören bei Friedensverhandlungen auf den Prüfstand und können als Quidproquo eingesetzt werden.

 

  1. Zur Vermeidung von Krisen und Kriegen bedarf es präventiver Diplomatie, wie auch der UNO-Generalsekretär betont.
    Im Vorfeld des Ukraine-Krieges wurde dieses Mittel nicht ausreichend angewendet. Doch die Risiken der Zukunft sind hoch: In der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen geht es um die Verhinderung eines großen, verheerenden Krieges in Europa.

Voraussetzung für präventive Diplomatie:

  • Abschreckungspotential
  • strategisch defensive Verteidigungsfähigkeit
  • wirtschaftliche Sanktionsfähigkeit

Gleichzeitig jedoch:

  • Politischer Wille zum Kompromiss und Interessenausgleich
  • Bereitschaft zu Abstrichen am universalistischen eigenen Wertekanon

Realpolitik muss abwägen zwischen der Verfolgung von Werten und der Notwendigkeit existentieller Sicherheitsvorsorge; das Interesse am Leben der Ukrainer und einer souveränen Ukraine muss berücksichtigt werden, die Einhegung der Eskalationsrisiken in Europa, bei denen es um alles oder nichts gehen kann, aber auch.

 

3 Gedanken zu „Europa und der Ukrainekrieg: Chancen und Herausforderungen für eine zukünftige Friedens- und Sicherheitspolitik

  • . Weshalb wird die deutsche Mitgliedschaft in der NATO und die Rolle der NATO aus meiner Sicht so unkritisch gesehen? Die NATO Mitgliedschaft hat Deutschland 20 Jahre lang die Bundeswehrbeteiligung am Afghanistankrieg aufgedrückt. Durch die NATO Mitgliedschaft ist Deutschland bei einer Eskalation des Ukrainekrieges sofort unmittelbar im Krieg mit Russland.
    2. Ich vermisse eine kritische Betrachtung der jetzigen Rolle Deutschlands bei der Unterstützung der Ukraine mit militärischer Hilfe und durch die Bundeswehr, dessen eigentlicher Auftrag nach dem GG die Verteidigung Deutschlands wäre. Die Bundeswehr bildet jährlich 10 000 ukrainische Soldaten aus, ihre Stäbe organisieren die Waffenbeschaffung, die Logistik, die Reparatur. Mehrere Ministerien haben Stäbe, welche für den Ukrainekrieg und die Ukraine arbeiten, die Bundesregierung fungiert mit erheblichem Aufwand als weltweiter Waffendealer und Koordinator für Abnahmegarantien von Waffen für deutsche Rüstungsfirmen sowie für den Aufbau von Reparaturwerkstätten in der Ukraine. Das sind alles Resssourcen, welche für die Infrastruktur, wirtschaftliche Förderung und Sozialausgaben fehlen. Deutschland muss die militärische Hilfe sofort beenden und sich auf die humanitäre und diplomatische konzentrieren.
    3. Der Ukrainekrieg hat der deutschen Wirtschaft bisher ca. 200 Milliarden Schaden verursacht nach Angaben aus der Wirtschaft. Der Handelskrieg gegen die UDSSR muss sofort beendet werden. Die Sanktionen sind unilateral, schaden vor allem DE und der EU. Die Öl- und Gaspipelines (1 Strang, Nordstream 2) sind wieder in Betrieb zu nehmen. Die russischen Auslandsdevisen sind an den Eigentümer freizugeben, ebenso die Zinsen aus den Auslandsdevisen.

    • Noch eine Ergänzung zu Punkt 3 .
      4. Alle einseitigen Sanktionen im Bereich Kultur, Sport, Reiseverkehr, Wissenschaft usf. sind abolut kontraindiziert für eine friedliche Lösung des Ukrainekrieges und müssen auch sofort beendet werden.

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