Ulis woke rant

Es gibt Emanzipationsbedarf. Ja.

Diejenigen, die sich emanzipieren müssen, wollen – dürfen – müssen dabei übers Ziel hinausschießen. Selbstverständlich.

Die Frage ist, inwieweit sich der öffentliche Raum ändern muss, um diesen Emanzipationsbestrebungen gerecht zu werden, z.B. welche Sprachregelungen gelten sollen, ob Abtreibungen oder die gleichgeschlechtliche Ehe erlaubt sind. Das muss jede Gesellschaft für sich entscheiden, finde ich jedenfalls; aber damit ist auch wieder ein schwieriges Problem angesprochen, nämlich, ob es überhaupt universell gültige Werte in Bezug auf die Emanzipationsthemen gibt.

So ist es in Russland keineswegs verboten, homosexuelle Beziehungen einzugehen, und es gibt eine ausgeprägte Schwulenszene. Nur so etwas wie Christopher Street Day ist dort nicht erlaubt, und Kinder werden diesbezüglich ‚geschützt‘. Eine andere Gesellschaft mag hier andere Regeln finden. Universell gültig wäre für mich nur, dass Schwule nicht verfolgt werden dürfen.

Auch in toleranteren Gesellschaften muss ein Diskurs möglich sein, in weit man das übers Ziel hinausschießen der sich Emanzipierenden mitmachen möchte, oder ob man nicht mit der Einführung geschlechtsneutraler Sprachregelungen z.B. nicht diejenigen diskriminiert, die bisher als ‚normal‘ galten, nämlich heterosexuelle Männer und Frauen. Und irgendwann auch nicht wissenschaftliche Erkenntnisse völlig außer Acht gelassen werden, die zeigen, dass Geschlecht nicht nur ein Konstrukt ist. Und dass jemand mit Y-Chromosom, egal ob er/sie sich als weiblich definiert, ganz andere Muskelmassen aufbaut als jemand ohne, und dass das bei sportlichen Wettbewerben zu berücksichtigen ist? Ich möchte auch nicht als Mensch/Elternteil mit Gebärmutter bezeichnet werden sondern gerne als Frau. Und was wäre ich denn, wenn mir dieses Organ entfernt worden wäre? Und der biologische Vater wäre dann das Elternteil mit Testikeln? Und diese Sprachregelungen sind dann besser als Mama und Papa? Darf ich die Eltern mit Kind im Kinderwagen noch fragen, ob da ein Mädchen oder Junge drin liegt? Muss ich fragen, ob das Kind vielleicht divers ist? Und was ist im Kindergarten, wenn die Kinder sich als Mädchen oder Junge identifizieren wollen? Muss da jetzt die Kindergärtnerin erzieherisch eingreifen? Wird es bald eine Kleiderordnung geben, dass Mädchen nicht mehr ‚niedlich‘ angezogen werden dürfen und Jungen sportlich?

Die Definition aller Menschen über lauter biologische Faktoren: Hautfarbe, Geschlecht, Behinderung … widerspricht eigentlich dem Anspruch sich gegen Diskriminierungen zu wenden. An die Stelle öffentlicher Persönlichkeiten, die in Bezug auf eine bestimmte Funktion und Rolle bestimmte Leistungen und Verhaltensweisen abliefern sollen, treten lauter ‚Benachteiligte‘, die alle erst einmal Verständnis dafür fordern, dass sie diese Leistungen und Verhaltensweisen nicht abliefern können.

Es ist aber eigentlich die Leistung des Erwachsenwerdens, sich diesen Anforderungen in Bezug auf die eigenen Fähigkeiten und Wünsche zu stellen, zu lernen, die Möglichkeiten auszubauen, die Grenzen zu akzeptieren und sich im öffentlichen Raum zu behaupten. Das ist der eigentliche Emanzipationsprozess. Und den muss eine Gesellschaft unterstützen, aber nicht dadurch, dass eine Sprachpolizei eingeführt wird, und alle als Frauenfeinde, Rassisten, oder was auch immer gedisst werden, die falsche Wörter benutzen oder jemanden sachlich kritisieren oder nicht in die von ihm/ihr angestrebte Position bringen, sei es durch politische Wahlen oder Auswahlprozesse in Betrieben. Unterstützung heißt Zugang zu guter Bildung, in der die individuellen Talente erkannt und gefördert werden, auf Basis materieller Sicherheit für Familien etc. Wie Putin das in seiner Rede definiert hat.

Es ist sicher gut, spezifische als strukturell erkannte Benachteiligungen auch speziell anzugehen und z.B. darauf zu achten, dass diskriminierte Personengruppen Zugang zu wichtigen gesellschaftlichen Positionen finden. Das bestreite ich ja gar nicht. Aber einmal dort angekommen, sollte es doch um deren Beitrag zum Gesamtgesellschaftlichen gehen und nicht um die Verteidigung ihre spezielle Nische. Und so ist es ja auch, wie man im Schlechten an den Außen- oder ‚Verteidigungs-‚ministerinnen der westlichen Welt deutlich sehen kann.

Am Ende ist die soziale Frage das Entscheidende und nicht das Geschlecht oder die Ethnie, und wenn eine Ethnie oder ein Geschlecht besonders oft sozial schlecht da steht, dann muss diesbezüglich strukturell was getan werden. Und da treffen sich die arroganten, eher konservativen Bildungsbürger mit den bunten ‚Linken‘: die soziale Frage ist beiden egal, und die unfeinen Reaktionen dieser Menschen auf ihre Lage, seien sie nun unangenehm, unflätig oder rechtsradikal, gehören ignoriert und, wenn sie zu schlimm werden, zensiert.

Es wird an der sozialen Front nicht genügend getan, und das ist meine Hauptkritik: es ist leicht, sich oberflächlich politisch korrekt zu verhalten, nie das ‚*innen‘ zu vergessen oder in ethnischer Kleidung pressewirksame Hinknieaktionen zu starten, usw. usw., während man gleichzeitig nichts tut, um die sozialen Verhältnisse zu ändern. Jetzt steht sogar das einzige Biden-Zugeständnis an die Sandersleute 15 Dollar Mindestlohn zur Disposition.

In den USA wurden alle Bewegungen mit Stumpf und Stiel ausgerottet, bei denen sich andeutete, dass Antirassismus und soziale Forderungen zusammen gedacht wurden und zur Solidarität aller Unterdrückten und auch noch zum Anti-Imperialismus aufgerufen wurde. Martin Luther King forderte das, die Black Panther Party ebenfalls. Wie es weiterging ist bekannt. Es gab z.B. einen charismatischen Schwarzen, der es schaffte, mit weißen Rassisten solidarische soziale Bewegungen zu starten, in Chicago, merkwürdig, dass er unter Bedingungen ermordet wurde, die nie ganz geklärt wurden. Aber es ging Bernie Sanders oder Corbyn nicht anders, auch wenn man ihnen nicht körperlich den Garaus gemacht hat. Bernie ist ein alter weißer Mann, zu russenfreundlich und zu frauenfeindlich. Corbyn hingegen ist Antisemit. Aber alter weißer Mann reicht ja eigentlich schon.

Hier wird die Emanzipationsbewegung dazu benutzt, um soziale und anti-imperialistische Bewegungen abzuschmettern. Den Leuten in Afghanistan und im Nahen Osten ist das vermutlich gleich, ob sie von einer Macho-Armee bombardiert werden oder einer, in der Rassen- Schwulen- und Frauendiskriminierung unterbunden wird. Und insofern tut das schon weh und ist ein klares Signal, dass die Biden-Regierung sich die Emanzipationsangelegenheiten auf die Fahnen schreibt, nicht aber die wichtigen sozialen Forderungen und die Beendigung des Jemen-Krieges (ich weiß, da tut sich was, aber so ganz gut scheint das trotz der Rhetorik nicht zu sein) und der mörderischen Sanktionen gegen den Iran, Syrien und Venezuela, alles Dinge, die sie genauso umgehend hätte angehen können. Wer die Einsetzung eines schwarzen Energieministers kritisiert, weil er mit den fossilen Energiekonzernen verbandelt ist, wird als Rassist beschimpft, und Kamala Harris als die erfolgreiche Frau und Farbige gefeiert, obwohl sie in ihrer Tätigkeit als Staatsanwältin dafür gesorgt hat, dass ihre farbigen Brüder wegen leichter Drogendelikte harte Gefängnisstrafen bekamen, während sie den Drogengenuss in Bezug auf sich persönlich kichernd toleriert.

Dann ist noch die Frage, ob die Werte, die wir in unseren Gesellschaften als gültig betrachten, einfach so als universell betrachtet werden können, oder ob es nicht das Recht aller Gesellschaften ist, diesbezüglich ihre eigenen Entwicklungsprozesse zu gehen und Wertmaßstäbe zu leben, auch wenn uns das nicht passt. Und auch innerhalb der Gesellschaften gibt es da ja durchaus sehr unterschiedliche Auffassungen. Kann man alle als rechtsradikal abstempeln, die bezüglich LBGTQ eher ‚russisch‘ denken?

Und da habe ich noch nicht einmal die Doppelmoral angesprochen, die darin besteht, dass die Aufmärsche gegen Russland oder Afghanistan in Wirklichkeit Null mit diesen Werten zu tun haben, wie die Propaganda uns einreden möchte. Wir retten nicht die Schwulen oder Frauen dort. Und dass die Verhältnisse im Iran, Palästina aber auch in Afghanistan eine Folge unserer Einmischung sind: in Afghanistan wurden die Taliban systematisch gegen die Sowjetunion aufgebaut, in Israel die religiöse Hamas gegen die säkulare PLO, im Iran ist die religiöse antiimperialistische Bewegung eine Reaktion auf das Schah-Regime, das wiederum im Zuge des CIA-Sturzes des demokratisch gewählten säkularen Präsidenten Mossadegh aufgebaut wurde. Auch Hezbollah im Libanon ist eine religiös fundierte antiimperialistische Bewegung, die als Reaktion auf die israelische Besetzung des Libanon entstand.

Ja, das ganze Thema ist ein sehr weites Feld.

Bildquelle: https://www.freedomfirstblog.com/blogs/the-biden-administrations-faux-progressivism/12/4/2020

 

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