Zum Ausstieg des Linksbündnisses aus der Marburger Regierungskoalition

Zur konkreten Manifestation eines Grundsatzdilemmas, oder: Wie man sich politisch entmachtet und noch gut dabei fühlt.

Gott schenke mir den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, die Gelassenheit, die Dinge zu ertragen, die ich nicht ändern kann und die Weisheit, beides von einander zu unterscheiden.“ (Motto der anonymen Alkoholiker). Ich wünsche mir zusätzlich die Gnade, in meinem Leben nicht allzu viele Dinge tun zu müssen, die meine wichtigsten Werte verletzen.

Kaum war die Marburger Linksfraktion als Teil von Marburgs Regierungskoalition im Amt, kam sie in die schwerste Situation, in die ein/e Politiker*in mit Grundsätzen kommen kann: trage ich einen Beschluss mit, der gegen meine Grundprinzipien verstößt, um im Amt zu bleiben? Und so wurde nach 12 Tagen die Koalition aufgekündigt.

Die Frage, ob ich Gewerbesteuerkürzungen für eine multinational agierende Pharmafirma mittragen kann, wäre in meiner Jugend für mich ein ‚No-Brainer‘ gewesen: selbstverständlich nicht. Als anti-kapitalistische Linke kann ich doch so etwas nicht unterstützen!

Vieles, was ich am Kapitalismus kritisiere, und speziell in Covid-Zeiten – hier kam es zusammen:

  • Ein Konzern, der riesige Gewinne aus der Impfstoffproduktion generiert, dafür staatliche Zuschüsse erhalten hat, sich aber – mit Unterstützung der Bundesregierung – weigert, die Patente soweit frei zu geben, dass auch ärmere Länder Impfstoffe produzieren können, was die Pandemie verlängert.
  • Ein Konzern, von dem natürlich der Standort Marburg profitiert, der aber gleichzeitig auch die örtlichen Ressourcen verbraucht, Verkehrsbelastungen verursacht etc..
  • Die Unverfrorenheit, mit der der Konzern die Steuersenkung fordert, und die Standortkonkurrenz der Gemeinden ausnutzt, in der diese angesichts der Art und Weise geraten, wie die kommunalen Finanzen in diesem Land geregelt sind.
  • Der vorauseilende Gehorsam der Gemeindeoberhäupter, in Marburg typischerweise ein SPD-Bürgermeister, typischerweise, weil man davon nicht überrascht aber trotzdem verärgert ist, während man es bei einem CDU-Politker nicht anders erwartet hätte. Ohne Not wird die Konzernbitte erfüllt. Hätte der Pharmariese denn die gerade aufwändig aufgebaute Produktionsstätte bei Nichtgehorsam wieder aufgegeben?
  • Die Propagandakampagne, mit der von den „Großen“ abgelenkt und behauptet wird, die Linke sei für den Mittelstand nicht wählbar, weil sie steuerliche Verbesserungen für diesen verhindere, obwohl es nachweisbar nicht stimmt, dass der von der Gewerbesteuerkürzung profitiert. Schließlich könne man sich doch freuen, stünde der Gemeinde doch trotzdem noch mehr Geld als je zuvor zur Verfügung!

Soll man genau das gleiche Verhalten an den Tag legen wie die SPD? Dafür ist man als Linke ja nun ganz und gar nicht angetreten! Das führt direkt zu den Noskes dieser Welt, die mit Gewalt die eigenen Leute niederschlagen. Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!

Also: das machen wir nicht mit. Wir sind keine Verräter. Koalition aufgekündigt. Prinzip gerettet.

Wirklich?

Der Beschluss war im Marburger Linksbündnis, wie ich meine zu Recht, bis zuletzt umstritten.

Es folgen meine Gründe dagegen:

Wozu tritt eine Partei bei Wahlen an und übernimmt sogar Regierungsverantwortung?

Sucht man mehr Nähe zur Macht und eine Plattform, um deren Machenschaften öffentlich zu entlarven?

Möchte man ein Kräfteverhältnis aufbauen, in dem reale Verbesserungen für die Menschen, die man vertritt, hier und heute erreichbar sind?

Gibt es einen Widerspruch zwischen diesen Zielsetzungen?

Ein Dilemma: zynischer Fundamentalismus (auch eine Form des Verrats) versus soziale Pflaster ohne Grundsatzkritik an den Verhältnissen, die die Verletzungen immer wieder hervor bringen.

Gibt es wirklich kein richtiges Leben im Falschen?

Im Konkreten, denke ich, ließe sich schon ein „richtiger“ Weg finden.

Im vorliegenden Fall wäre das aus meiner Sicht nicht die Aufkündigung der Koalition gewesen sondern die Akzeptanz des Kompromisses, gegen die Gewerbesteuersenkung zu stimmen, sich beim Haushalt jedoch zu enthalten. In dieser besonderen Situation in Marburg hätte man sich so verhalten können, wurde die Linke doch Teil einer Koalition, die auch ohne sie mehrheitsfähig ist. Diesen Kompromiss wollten aber Teile des linken Bündnisses nicht mittragen, denn eine Enthaltung bei der Verabschiedung des Haushaltes hätte trotzdem faktisch die Zustimmung zur Gewerbesteuerkürzung bedeutet.

Was wurde mit dieser Entscheidung gewonnen, was verloren?

Dass die Konzerne die Kommunen nach ihrer Pfeife tanzen lassen, wurde der Öffentlichkeit in Marburg mehr als deutlich vorgeführt, dass das linke Bündnis mit über 10% der Wählerstimmen nicht die Kraft hatte, dies zu verhindern, auch.

Der eigentliche Skandal ist aber das System der Finanzierung der Kommunen, die immer mehr Aufgaben bekommen, dafür meist nicht die Mittel haben, häufig immer stärker verschuldet sind und so als Wirtschaftsstandorte um die Gunst der Großbetriebe konkurrieren müssen. Eine Reform ist schon lange überfällig, was quer durch alle politische Lager konsensfähig ist. Die Situation hätte dafür genutzt werden können, ein Bündnis für konkrete Forderungen in diese Richtung mit auf den Weg zu bringen.

So z.B.: Wahlprogramm sucht Partei – Kommunale Finanzen

Durch die Zuspitzung des Konfliktes auf die einzige Frage „Unterwerfung unter das Kapital oder nicht“ hat man in diesem konkreten Fall die Ausgangslage für ein solches Bündnis und eine grundsätzliche Systemänderung verschlechtert, weil die prinzipientreue Haltung des linken Bündnisses zu dessen Isolierung geführt hat. Ein Propagandaschmankerl für die Gegner: Mit Fundis kann man eben keine Politik machen.

Aber es wurden auch Chancen verschenkt, in der Auseinandersetzung mit einem Konzern vor Ort die sozial-ökologische Wende voranzutreiben. Die durch den Großbetrieb entstandene Verkehrsbelastung ist enorm. Hier gälte es, diesen konkret in die Pflicht zu nehmen, und den „Geldsegen“ u.a.  zur Umsetzung eines vernünftigen Nahverkehrskonzepts zu nutzen, um die Belastungen für Mensch und Umwelt zu minimieren.

Mit der Marburger Koalition aus SPD, Grünen, Klimaliste und linkem Bündnis wurde eine Zusammenarbeit von Akteuren mit verschiedenen Schwerpunkten zum gemeinsamen Ziel, die sozial-ökologische Wende vor Ort voranzubringen, ermöglicht. Für das linke Bündnis steht programmatisch die Unterstützung der sozial benachteiligen Menschen in Marburg im Mittelpunkt. Diesbezüglich hatte das linke Bündnis mit der Einführung einer vierten hauptamtlichen Magistratsstelle, der das Resort Soziales zugeordnet wird, und über deren Besetzung Klimaliste und Linke entscheiden durften, einen großen Erfolg zu verzeichnen.  Es wurde eine dauerhafte Struktur geschaffen; diese bleibt auch nach dem Ausstieg aus der Koalition.

Wer schon mit Verwaltungen zu tun hatte, weiß jedoch, dass zwischen einem guten Programm und dessen Umsetzung Welten liegen, und dass es auf die einzelnen beteiligten Menschen und deren Zusammenarbeit ankommt, wie gut die Realisierung eines Vorhabens gelingt. Der / die Inhaber/in der neuen Stelle wird den Geist der Verwaltung im Umgang mit den betroffenen Personen maßgeblich beeinflussen und das Ressort politisch gestalten können.

Nicht nur auf ihren Einfluss bei der Besetzung der Stelle hat die Linksfraktion nun verzichtet sondern besonders auch auf die Möglichkeit, aktiv – aus der Innensicht – Einfluss auf die Verwaltungsprozesse der kommenden 5 Jahre nehmen zu können.

Man hätte beweisen können, dass gute Kommunalpolitik die Lage der Menschen konkret verbessern kann und damit vielleicht auch der politischen Resignation der ‚Abgehängten‘ entgegengewirkt.

Diese kleinen Schritte waren einigen in der Fraktion weitaus weniger wichtig als das antikapitalistische Prinzip. Für mich wird damit jedoch ein fundamentaler Wert, ein anderes Prinzip, verletzt, nämlich das, das man alles in seinen Möglichkeiten tun sollte, um die Leiden der Menschen im hier und jetzt zu lindern. (Und so spende ich weiter für die UNO-Flüchtlingshilfe, auch wenn ich unglaublich wütend darauf bin, dass unsere Regierung die Kriege mitverantwortet, die die Menschen zum Verlassen ihrer Heimat zwingen.)

Insgesamt hat das linke Bündnis auf diese Weise viele Möglichkeiten für konkrete politische Veränderungen vor Ort genauso vertan wie die Chance, als Positivbeispiel für ähnliche Konstellationen anderswo dienen zu können. Das dürfte massive politische Folgen haben.

Einer möglichen antikapitalistischen Zukunft sind wir damit jedoch mit Sicherheit nicht näher gekommen.

Vermutlich nicht nur die Autorin dieses Artikels sieht sich nun in der Entscheidung bestätigt, nicht kommunalpolitisch aktiv zu werden, wohl wissend, dass die Betätigung als Couch-Strategin keine wirkliche Alternative ist, und in größter Hochachtung vor denjenigen, die über Jahre hinweg immer wieder die Energie finden, in den Auseinandersetzungen mit politischen Freunden und Gegnern ihre Vorstellungen in der Praxis zu entwickeln, zu vertreten und umzusetzen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Du kannst diese HTML-Tags und -Attribute verwenden:

<a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>