Dieser Artikel erschien am 6.4. auf Makroskop.
Wer es sich in dieser Zeit anzumerken getraut, dass es seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion viele ‒ von den USA und ihren Verbündeten begonnene ‒ völkerrechtswidrige Sanktionen und Kriege gegeben hat und noch gibt, macht sich des Whataboutism schuldig.
In der westlichen Berichterstattung beginnt der Ukraine-Krieg am 24. Februar 2022. Grundlos und völlig unvermittelt überfiel Putin die Ukraine. Selbst jene, die den Kontext und die Vorgeschichte dieses schon lange schwelenden Konflikts kennen, sehen sich vor jeder anderen Äußerung dazu genötigt, den Angriff als „durch nichts zu rechtfertigenden völkerrechtswidrigen Akt“ zu verurteilen.
Am Ende scheiden sich die Geister nur noch daran, wie scharf die Sanktionen gegen Russland sein sollen, und ob auch Waffenlieferungen an die Ukraine gerechtfertigt sind oder nicht. Und der Botschafter von China, eines der Länder, die sich weigern, einseitig Russland zu verurteilen, wird im Interview von einer jungen Journalistin ständig rüde unterbrochen, die von ihm nur eins hören will:
„Will you tell your President to tell Putin that he has to stop now? Zelensky is sitting in a bunker!“
Sind mit der Verurteilung des Angriffskriegs Russlands alle Fragen beantwortet und alle Zweifel zerstreut? Ganz sicher nicht.
Wer es sich in dieser Zeit anzumerken getraut, dass es seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion viele ‒ von den USA und ihren Verbündeten begonnene ‒ völkerrechtswidrige Sanktionen und Kriege gegeben hat und noch gibt, macht sich des Whataboutism schuldig. Und ja, aus zwei Mal Unrecht wird kein Recht.
Fügen wir also im Dienste des Guten ein drittes Unrecht hinzu? Das Einfrieren von Staatsgeldern, die Konfiszierung des Privateigentums von Oligarchen oder die Trennung russischer Banken von SWIFT mag politisch angemessen erscheinen, eine solide Rechtsgrundlage hat es nicht.
Umso seltsamer mutet es an, wenn sich die Europäer nun über das vierte Unrecht beschweren, nämlich die Forderung Russlands, künftige Energielieferungen in Rubel zahlen zu müssen. Keiner weiß, für welche weiteren Rohstoffe das künftig noch gelten wird. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Die Sachlage geradezu auf den Kopf stellt eine Titulierung in der Tagespresse: „Scholz warnt Putin.“ Womit droht er? Schließlich will Deutschland etwas, was nur Russland liefern kann. Oder soll aus dem Krieg Russlands gegen die Ukraine ein Krieg Russlands gegen die NATO werden?
Moralismus und Realismus
Wie man es auch dreht und wendet: Die normativ-moralische Argumentation führt in einige Sackgassen.
Erstens: Wer das Privateigentum als höchstes Gut ansieht, und es dann, aus welchen Gründen auch immer, nicht respektiert, verliert das Vertrauen seiner Geschäftspartner. Und so sehen viele Staaten das Ende des Dollars als Leitwährung für gekommen.
Zweitens: Wer ein Land wie Russland, auf das vor allem Deutschland so stark angewiesen ist, sanktioniert, schneidet sich ins eigene Fleisch, wie jetzt der ausgerufene Gasnotstand in Deutschland zeigt. „Für seine Ideale muss man einstehen“, sagt die aus gutsituiertem Elternhaus stammende Luisa Neubauer. Und vielleicht begrüßt manch einer die zu erwartende drastische Einschränkung unseres Lebensstandards als notwendige Schocktherapie zur Bekämpfung des Klimawandels.
Doch ob die vielen Arbeitslosen ihnen beipflichten, die ihre prekäre Lage dem Zusammenbruch der auf Energie angewiesenen Industriezweige verdanken, steht auf einem ganz anderen Blatt. Und das Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht. Weil sich China bisher weigert, Russlands Krieg zu verurteilen, wird auch schon über Sanktionen gegen das Reich der Mitte diskutiert.
Drittens: Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass Sanktionen meistens nicht zu der erwünschten „Verhaltensänderung“ des betroffenen Landes führen. Das zeigen Beispiele wie Kuba, Irak oder Nordkorea. Unter dem Ziel, die Wirtschaft des sanktionierten Staates zu zerschlagen, leidet vor allem die Bevölkerung. Im Irak kostete das allein 400.000 Kindern das Leben. Die kürzlich verstorbene, ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright war der Meinung, dass die gute Sache das wert gewesen sei. (Böse Zungen behaupten, dass sie gerade am Fluss Styx festhängt, weil der Fährmann sie nur gegen Rubel übersetzen möchte.)
Doch der erwünschte Volksaufstand, der letztlich zum Regime Change führt, findet in der Regel nicht statt. Der Fall Rhodesiens in den 60er und 70er Jahren ist eine, wenn auch umstrittene, Ausnahme. Allzu oft führt der Druck von außen sogar zu einem festeren Zusammenschluss zwischen Bevölkerung und Regime. Und die gerade zu beobachtende Ächtung alles Russischen, seien es nun Katzen, Autoren, Komponisten, Künstler oder Sportler, trägt mit dazu bei, dass Putins Zustimmungswerte zuletzt steil angestiegen sind.
Viertens: Wer glaubt, er könne sich gegen einen klar überlegenen Gegner militärisch behaupten, mag zwar als Held gelten, opfert aber die „Blüte seiner männlichen Jugend“, schrieb einst der Athener Stratege und Geschichtsschreiber Thukydides. Sollte sich die Ukraine also angesichts der Kräfteverhältnisse und des Ausmaßes der Zerstörung ukrainischer Städte und Menschenleben geschlagen geben und akzeptieren, dass „Recht nur zwischen gleich Starken gelten kann, während die Starken tun, was sie wollen und die Schwachen ertragen müssen, was ihnen auferlegt wird“? Dieser Gedanke ist zumindest im öffentlichen Diskurs Blasphemie.
Doch es gibt auch heute Stimmen, die das genau so sehen: „We are offensive realists“, sagt in einem Vortrag der ehemalige CIA-Mitarbeiter Ray McGovern über sich und den umstrittenen amerikanischen Politologen John Mearsheimer und meint (in diesem Zusammenhang) damit, dass es notwendig sei, sich der Realität zu stellen ‒ so empörend und verletzend diese auch sein möge. Wer sich der Realität nicht fügt, wider besseres Wissen immer weiterkämpft oder Waffen liefert, verhalte sich kriminell, so das Argument.
Doch was genau ist die aktuelle Realität in der Ukraine? Die militärische Lage lässt sich nur schwer einschätzen und so bleibt es bei Vermutungen, die sich aus ukrainischen „Berichten“ und „Dossiers“ von westlichen Nachrichtendiensten zusammensetzen. Jeder Krieg wird von einem Informationskrieg begleitet. Entgegen der Berichterstattung des Westens vom operativ eklatant versagenden russischen Militär, davon, dass der Krieg für Russland wohl nicht mehr zu gewinnen sein könnte, gibt es auch andere Lagebeschreibungen, die nicht aus Quellen russischer Propaganda entstammen.
Neben McGovern und Mearsheimer glaubt auch der ehemalige UN-Waffenkontrolleur im Irak Scott Ritter, dass man von einem klaren Sieg Russlands ausgehen kann und muss. Der ehemalige Diplomat und langjährige indische Botschafter in Moskau M.K. Badrakumar behauptet, etwa 60-80.000 ukrainische Soldaten seien im Donbass durch die russische Armee eingekesselt worden. Allerdings konnte diese Angabe bisher nicht verifiziert werden.
Fünftens, wer sich in einer solchen Lage, in denen auch noch Atommächte gegeneinander stehen, kompromisslos auf Recht und Moral beruft, hat keinen anderen Ausweg als den Untergang, entweder durch eine vernichtende Niederlage oder die Ausweitung des Krieges bis hin zum atomaren Schlagabtausch. Denn ein Kompromiss, eine Verhandlungslösung, ist nur möglich, wenn derjenige, der sich durch den Angriff ins Unrecht gesetzt hat, nicht als verrücktes Monster abgetan wird, sondern auch die Vorgeschichte des Konfliktes mit einbezogen wird.
Es gibt keine Macht, die Recht durchsetzen könnte
Was folgt daraus aus Sicht der „offensiven Realisten“? In internationalen Beziehungen herrscht Anarchie, denn es gibt nicht die eine Macht, die das Recht durchsetzen könnte, behaupten sie. Jeder Staat habe machtpolitische Interessen, die es zu verstehen gelte und zwischen denen eine Machtbalance ausgehandelt werden müsse. Dass ein kleiner Staat, der neben einem mächtigeren liegt, sich bis zu einem gewissen Grad diesem fügen müsse, sei zwar nicht wünschenswert, aber nun mal nicht zu ändern.
Deswegen sei es nicht möglich, dass jeder Staat sich seine militärischen Verbündeten frei wählen könne. Das gelte nur so lange, wie sich die Nachbarstaaten nicht bedroht fühlten. Und das Russland sich durch die faktische Integration der Ukraine in die Nato bedroht fühlen musste, stellten nicht nur Mearsheimer, sondern auch der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger und der CIA-Chef William Burns wiederholt fest. Die russischen Machtinteressen wurden aber – trotz aller Proteste und diplomatischen Bemühungen Russlands – konsequent von westlicher Seite ignoriert.
Doch das alles soll kein Plädoyer für Isolationismus sein. ‚Offensive Realisten‘ nennen sich Mearsheimer und andere auch deswegen, weil sie der Meinung sind, dass sich die USA nicht vollkommen aus den internationalen Beziehungen heraushalten, sondern durchaus – notfalls auch militärisch – eingreifen sollten; das aber nur in besonderen Fällen ‒ nicht im Nahen Osten und auch nicht gegen Russland.
Damit grenzen sich die „offensiven Realisten“ grundlegend von der Doktrin der Neocons ab, die in den USA nach wie vor den Weltpolizisten sehen, der im Namen „der Freiheit“ überall auf der Welt das Gute gegen die Diktatoren und Autokraten dieser Welt durchsetzt ‒ ein „offensiver Liberalismus“. Nach Auffassung der „Realisten“ hat diese Doktrin der USA zu unnötigem, unendlichem menschlichem Leid und großer Zerstörung geführt. Dafür wurde bisher noch keiner der Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen, nur Julian Assange, der amerikanische Kriegsverbrechen aufdeckte, sitzt dafür ohne Verurteilung im Gefängnis.
Nach Auffassung der Neocons waren die Kriege von Jugoslawien über Afghanistan, den Irak, Lybien bis hin zu Syrien jedoch kein Unrecht, sondern nach Artikel 51 der UN-Charta durch das Recht auf Selbstverteidigung gerechtfertigt. Man argumentierte mit einer neuartigen Rechtstheorie, nach der die Interventionen durch eine „präventive kollektive Selbstverteidigung“ im Rahmen der NATO legitimiert seien. Eine anfechtbare Argumentation, dich sich nun auch Russland zunutze machte: Die gemeinsame Operation mit den von Russland neu anerkannten unabhängigen Staaten Lugansk und Donezk stelle eine „regionale Sicherheits- oder Selbstverteidigungsorganisation“ im Sinne von „präventiven kollektiven Selbstverteidigungsmaßnahmen“ nach Artikel 51 dar.
Umso brisanter ist der Verweis von Scott Ritter auf die „Legitimität der russischen Behauptung“, die russischsprachige Bevölkerung des Donbass sei acht Jahre lang einem brutalen Bombardement ausgesetzt gewesen, das Tausende von Menschen getötet habe. Unter dem Strich, so Ritter, habe Russland einen erkennbaren Anspruch im Rahmen der auf Artikel 51 bezogenen Doktrin der präventiven kollektiven Selbstverteidigung geltend gemacht, die ursprünglich von den USA und der NATO entwickelt wurde.
Der Westen steht nun vor einem Dilemma, an dem er Mitverantwortung trägt und dass der australische Whistleblower David McBride auf den Punkt brachte:
„Wenn wir unsere eigenen Staatsführungen nicht zur Rechenschaft ziehen, können wir auch andere Staatsführungen nicht zur Rechenschaft ziehen. Wenn das Gesetz nicht durchgängig angewandt wird, ist es kein Gesetz. Es ist lediglich eine Ausrede, die wir benutzen, um Feinde zu bekämpfen.“