Piers Morgan, Gastgeber der Show Uncensored beim britischen Kanal TalkTV, sprach mit dem in Ungarn geborenen kanadischer Mediziner Gabor Maté, dessen jüdische Familie nur knapp der Deportation unter der deutschen Besatzung entging. Er hat sich auf die Themen Sucht und Abhängigkeit und die Zusammenhänge von Stress, Sucht, Immunsystem, chronischen Erkrankungen und Traumata in der Kindheit spezialisiert. Hier eine Zusammenfassung.
Der Gastgeber fragte zunächst, wie Maté als Arzt, der mit vielen schwerst traumatisierten Menschen gesprochen und ihnen über ihre Erlebnisse hinweg geholfen habe, die Entwicklungen in Israel und Gaza einschätze. Schließlich befänden sich die Menschen in Israel und Gaza in einer extrem traumatischen Situation. Das gälte für beide Seiten, für die Menschen, die am 7. Oktober Opfer des Hamas-Massakers waren sowie die Geiseln und ihre Familienangehörigen, aber auch für die Menschen in Gaza, wo als Folge der militärischen Antwort Israels Tausende von unschuldigen Menschen getötet würden, darunter Tausende von Kindern.
Man könne die Situation nur in ihrem historischen Kontext verstehen, erläutert Maté. Als Holocaust-Überlebender sei ihm früher der Zionismus als Weg zur Erlösung des jüdischen Volkes sehr wichtig gewesen. Dann aber habe er herausgefunden, dass die Gründung des Staates Israel mit der Vertreibung und mehrfachen Massakern an der lokalen Bevölkerung einherging, was historisch nicht bestreitbar sei. Aber auch heute lebten die Palästinenser unter israelischer Besatzung.
Zwischen Israelis und Palästinensern gäbe es keine Koexistenz, nicht einmal eine fragile, sondern Unterdrückung, regelmäßige Massaker, Landbesetzung im Westjordanland, die ständige Vertreibung der Bevölkerung aus ihren Häusern, wie er bei seinen mehrfachen Besuchen in den besetzten Gebieten gesehen habe. Beim ersten Mal, während der ersten Intifada1, habe er angesichts dessen, was er gesehen habe, zwei Wochen lang jeden Tag geweint. Eine Lösung für die gegenwärtige traumatische Situation sei – im Interesse der Israelis und der Palästinenser – nur möglich, wenn die Palästinenser ihr 1967 von Israel besetztes Land zurückerhielten.
Er mache sich keine Illusionen darüber, was das palästinensische Volk erdulden musste, entgegnete Morgan. Die jahrzehntelange Unterdrückung des palästinensischen Volkes sei absolut beschämend und hätte nicht sein dürfen. Allein die Tatsache, dass Israel nach dem 7. Oktober in der Lage war, die Versorgung des Gazastreifens mit Lebensmitteln, Wasser, Treibstoff usw. einfach abzustellen, sage alles. Es handele sich um eine Besatzung, eine kontrollierende Kraft, die darüber entscheide, ob die Menschen essen oder Treibstoff hätten, heizen oder sich ernähren könnten. Darüber mache er sich keine Illusionen. Er habe sich schon früher sehr kritisch gegenüber Israel geäußert.
Was die Dinge für ihn jedoch moralisch kompliziert gemacht habe, sei das extrem erschreckende Ausmaß dessen, was am 7. Oktober geschah. Stellten die Ereignisse des 7. Oktober nicht ein so gigantisches kollektives Trauma für Israel dar, dass die Notwendigkeit der Verhinderung weiterer Anschläge alle anderen Überlegungen verdrängten? Noch dazu habe vor zwei Wochen ein Sprecher der Hamas weitere Anschläge angekündigt, sofern sie dazu in der Lage sei. Es handele sich also um eine klare existenzielle Bedrohung der Sicherheit der Menschen in Israel. Deswegen sei er der festen Überzeugung, dass Israel alles in seiner Macht stehende tun müsse, um diese Bedrohung zu beseitigen.
Natürlich sei jeder zunehmend besorgt über das, was im Gazastreifen passiere. Niemand könne das katastrophale Ausmaß des Verlusts von Menschenleben unter der Zivilbevölkerung für richtig halten. Aber Israel habe doch auch das Recht auf Selbstverteidigung. Die Frage sei also, wie Israel sich in angemessener Weise verteidigen, und wie es gelingen könne, Hamas los zu werden. Angesichts der Tatsache, dass die Terroristen in der Zivilbevölkerung untergetaucht seien, und diese Bevölkerung zur Hälfte aus Kindern bestehe, sei er jedoch vollkommen ratlos, wie man das ohne massive zivile Opfer bewerkstelligen könne.
Der Wunsch nach Selbst-Verteidigung und sicherlich auch der Wunsch nach Rache sei vollkommen verständlich, so Maté, aber nur denn, wenn man die entsprechende Erfahrung der Palästinenser ausblende. Vorankommen könne man nur, wenn man die realen Erfahrungen beider Seiten berücksichtige.
Auch das Land, in dem er lebe, Kanada, gründe auf der Unterdrückung und Auslöschung der einheimischen Bevölkerung und der völligen Verleugnung ihrer Geschichte. Es habe da z.B. die entsetzlichen Internatsschulen gegeben, in denen bis vor einigen Jahrzehnten einem indigenen Kind, das seine Stammessprache sprach, eine Nadel in die Zunge gestochen wurde. Die meisten Kanadier seien sich dieser Geschichte nicht mehr bewusst.
Und die meisten Israelis seien sich der Geschichte dessen, was die Palästinenser erlitten haben, nicht bewusst. Sie wüssten nicht, dass es 1948 mehrere Massaker an einer großen Zahl von Menschen durch israelische Streitkräfte gab, sie kennen die Geschichte, die subjektive Erfahrung der Palästinenser nicht. Er habe in Israel mit Menschen gesprochen, die keine Ahnung haben, was ein paar Meilen entfernt von ihnen geschieht, während sie in Tel Aviv oder Jerusalem im Café sitzen, wie die Menschen unter der Besatzung leben. Das sei keine Unfähigkeit, sondern relativ normales menschliches Verhalten. In Ermangelung dieses Wissens jedoch sei der 7. Oktober für sie nur ein weiteres schreckliches antisemitisches Ereignis. Die westliche Presse und – wie in allen Ländern, in denen die einheimische Bevölkerung vertrieben wurde – die Mehrheit der Bevölkerung kenne die Geschichte nicht.
Wie jedes Land, habe Israel selbstverständlich das Recht auf Selbstverteidigung. Es habe aber nicht das Recht, Menschen einer Besatzungsherrschaft zu unterwerfen. Seine Familie habe nach der ungarischen Revolte gegen die sowjetische Besatzung im Jahr 1956, das Land verlassen müssen. Sei es etwas Russlands Recht gewesen, sich gegen den ungarischen Volksaufstand zu verteidigen? Die Rede von Israels Selbstverteidigungsrecht bezöge sich meist auf einzelne palästinensische Aktionen; dass diese Bevölkerung jedoch auch das Recht habe, sich gegen die Besatzung zu verteidigen, würde dabei nicht berücksichtigt.
Die schrecklichen Ereignisse des 7. Oktober seien damit nicht zur rechtfertigen. Aber in Ermangelung eines historischen Bewusstseins hätten wir eine einseitige Sicht der Dinge. Gegen wen verteidige sich Israel denn? Gegen eine Bevölkerung, die es seit 80 Jahren zu Tausenden massakriere, deren Land es wegnähme, deren Häuser es zerstöre, deren Kinder es einsperre und foltere. Es sähe so aus, als wolle sich dieses arme kleine Land verteidigen, aber in Wirklichkeit „verteidige“ es sich gegen Menschen, die es seit 80 Jahren besetzt und vertrieben habe. Das seien die geschichtlichen Tatsachen, wie israelische Historiker gezeigt hätten, keine Hirngespinste. Er selbst würde gerne an den Traum vom jüdischen Staat glauben, einen Traum den er geliebt habe, bis ihm klar geworden sei, welcher Albtraum für die Palästinenser damit verbunden sei.
Das habe für ihn selbst schwierige persönliche Konsequenzen gehabt. Schon 1967 habe er nach dem 6-Tage-Krieg einen Artikel geschrieben, in dem er argumentierte, dass Israel die palästinensischen Gebiete ganz bewusst besetzt hätte, um sie dann nie wieder zurückzugeben. Daraufhin habe sein Vater ihn aus dem Haus geworfen. Das habe er akzeptiert, denn er habe die Entscheidung getroffen, dass er, um authentisch zu sein und seine Wahrheit zu sagen, bereit war, den Kontakt abzubrechen, wenn es sein musste. Später habe sich sein Vater mit ihm ausgesöhnt und in der Sache sogar zugestimmt.
Wenn wir die palästinensische Erfahrung nicht vollständig verstünden, historisch und über die Jahrzehnte hinweg bis in die Gegenwart, wäre kein Vorankommen möglich. Eine im Jahr 2005 im „Journal of World Psychiatry“ erschienene Studie, die sich mit traumatisierten Bevölkerungsgruppen unter Kriegsbedingungen befasste, habe festgestellt, dass sich dort schon damals, vor der Machtübernahme von Hamas im Gazastreifen, die am stärksten traumatisierten Kinder der Welt befunden hätten. Diese Bevölkerung sei schwer traumatisiert, natürlich seien sie voller Wut. Er rechtfertige nichts, was sie getan hätten; man müsse aber fragen, was eigentlich anderes von dieser Bevölkerung zu erwarten sei, die jahrzehntelang unterdrückt, gequält und gekreuzigt wurde.
Die Lage sei also unlösbar, stellte Morgan fest. Und dennoch, auch der Nordirlandkonfikt sei unlösbar erschienen, als die IRA terroristische Gräueltaten verübt habe. Aber schließlich sei es doch zum Frieden gekommen. Ob sich Maté auch in Israel einen Weg zum Frieden vorstellen könne?
Erst vor kurzem habe er, antwortet Matè, auf Einladung einer Stiftung, die sich für Heilung und die Entwicklung von Kindern usw. einsetzt Ex-Jugoslawien besucht. Auch dort sei nach den schreckliche Gräueltaten vor einigen Jahrzehnten inzwischen Frieden eingekehrt, auch wenn längst noch nicht alle Probleme gelöst seien.
Die Mindestvoraussetzung für einen Frieden in Israel sei die Beendigung der Besatzung und der unmenschlichen Belagerung des Gazastreifens, und die Respektierung des Völkerrechts, welches ganz klar sage, dass diese Besatzung illegal sei. Das müsse die Grundlage für jedes künftige Abkommen sein. Wenn man sich darauf einige, und Israel innerhalb der international anerkannten Grenzen leben könne, sei Frieden möglich.
Man rede immer wieder über die Hamas-Charta, die das Existenzrecht Israels bestreite. Aber die Charta der Likud, der Regierungspartei in Israel, schließe ein palästinensisches Gebiet westlich des Jordans aus. Beide Chartas müssten abgeschafft werden. Ohne Druck von außen werde das nicht geschehen. Solange die internationale Gemeinschaft und insbesondere Israels große Brüder Großbritannien und die USA nicht aufhörten, die illegale, brutale, unmenschliche und räuberische Besatzung zu unterstützen, werde der Krieg sich weiter fortsetzen.
1Die Erste Intifada (arabisch für Aufstand) war eine anhaltende gewalttätige Auseinandersetzung zwischen Palästinensern und der israelischen Armee, die im Dezember 1987 begann und 1993mit dem Abschluss des Oslo-Abkommens endete.