Paradigmenwechsel

Hier ein weiteres Kapitel aus meinem geplanten Opus:

Als 68er waren wir nicht die erste Generation, die der Faszination des Marxismus erlagen. Das Versprechen war, im Gesamtzusammenhang verstehen zu können, was die Welt im Innersten zusammenhält: Die Menschwerdung durch Arbeit, die Entwicklung der Mensch-Natur-Beziehungen, der Beziehungen der Menschen zueinander und der kulturellen und politischen Verhältnisse im Zusammenhang mit den Produktionsverhältnissen im Laufe der Geschichte, die Ungleichheit, die Ungerechtigkeiten und die Kämpfe. Die konkrete Utopie. Und was zu tun ist, um dorthin zu gelangen.

Gräber/Wengrow1 zeigen an archäologischen Funden, wie viel komplexer das alles im Vergleich dazu ist, wie wir es beim Marx/Engels Studium gelernt bzw. verstanden haben. Denn vermutlich hätten die beiden – konfrontiert mit der Faktenlage – alles viel differenzierter gesehen. Fest steht, dass die menschlichen Gesellschaftsformen sehr viel weniger linear aus der Produktionsweise abzuleiten sind als wir annahmen. Die Menschen sind immer viel experimentierfreudiger gewesen, und es gab bei der Gestaltung der Produktionsverhältnisse und Kulturen weitaus mehr Variationen als wir uns vorstellen können.

Immer aber war die Arbeit eine wesentliche Komponente, und sie war auch die zentrale Ursache von Ungleichheit, indem es Menschen gab, denen es gelang, die Macht, andere für sich arbeiten zu lassen, nicht nur zu beanspruchen, sondern auch durchzusetzen. Und diese Ungleichheit begann im ganz persönlichen Sorgebereich.

Unser Paradigma zum Verständnis der Gegenwart, zu füllen mit Millionen empirischer Fakten, war der wissenschaftliche Sozialismus. Es galt zu zu verstehen, wie unsere gegenwärtige

Gesellschaftsform tickt, und wie die Transformation zu einer besseren Gesellschaft gelingen könnte.

Wir betrachteten die Welt durch die Linse Kapitalismus vs. Sozialismus; Bourgeoisie vs. Arbeiterklasse. Wir gingen davon aus, dass die Machtergreifung der Arbeiterklasse zur Durchsetzung einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsform führen wird, in der  1. die negativen Auswüchse des Kapitalismus beendet werden und 2. die Produzenten die Produktion und die Verteilung, das wer, was, wo, wie und wie viel bestimmen. Und viele von uns setzten unsere Kräfte dafür ein, dieses Ziel zu realisieren.

Der Physiker, Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftsphilosoph Thomas Kuhn zeigt, dass wissenschaftliche Forschung und Entwicklung sich immer im Rahmen bestimmter Vorstellungen vollzieht. Diese Vorstellungen oder Weltbilder nennt er Paradigmen. Die ‚normale‘ Wissenschaft entwickelt auf dieser Basis Fragestellungen und Hypothesen, die dann empirisch überprüft werden. Mit der Zeit stellt sich heraus, dass immer mehr empirische Ergebnisse nicht mit dem vorherrschenden Paradigma übereinstimmen, die Realität also nicht mehr hinreichend erklärt werden kann. Auch sich bewahrheitende Prognosen können auf dieser Basis nicht mehr formuliert werden. Dann muss sich eine Gedankenrevolution, ein Paradigmenwechsel, vollziehen.

Das geht nicht ohne Konflikte vor sich.

Das beschriebene Sozialismus-Kapitalismus-Paradigma wurde immer wieder in Zweifel gezogen, ganz besonders nach dem Ende des Realsozialismus in der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten. Es wurde aber auch immer wieder aufgenommen. Nicht zuletzt in China, Dass es in der heutigen Situation des Ukraine-Krieges nicht vollständig trägt, wird z.B. daran deutlich, dass viele linke Antikapitalisten nun nach unbegrenzten Waffenlieferungen und Aufrüstung rufen und sich im Wunsch, das Völkerrecht gegen den Aggressor Russland durchzusetzen, zu Handlangern des US-Imperialismus machen.3

Das Sozialismus-Paradigma bzw. die Gegenüberstellung Arbeiterklasse – Bourgeoisie mit dem Ziel der Machtübernahme durch die Produzenten greift also zu kurz, wenn man die heutige Krise begreifen und überwinden möchte, denn viele empirische Tatsachen sind darin nicht aufgehoben.

1. Der Kapitalismus war eine progressive Kraft und ist es noch. Ohne ihn gäbe es die unglaubliche Entwicklung der Produktivkräfte der vergangenen 200 Jahre nicht, weder die Produktionsmengen noch die Innovationen. All das verdanken wir dem Mechanismus, nach dem Gewinne nicht unmittelbar konsumiert werden, sondern in die Produktion reinvestiert werden, um noch mehr Gewinn zu machen. Es ist heute nur sehr schwer eine Wirtschaftsform vorstellbar, die ähnliches erreichen könnte. Das mussten die planwirtschaftlich organisierten sozialistischen Gesellschaften bitter erfahren.

2. Der Kapitalismus entwickelt sich nicht linear. Es scheint eine Neigung zu geben, Marx’ Feststellung, dass die neue Gesellschaftsform in der alten heranwächst, um dann die alte abzulösen, mechanistisch und linear zu interpretieren. Die Kräfte, die verhindern, dass etwas neues entsteht, und diejenigen, die auf die Entstehung des neuen drängen, sind jedoch gleichzeitig im Kapitalismus wirksam und reiben sich ständig miteinander. Der Profitmechanismus der privaten Aneignung drängt in Richtung „Barbarei“, der produktive Mechanismus und der gesellschaftliche Charakter der Produktion drängen in Richtung Sozialismus. Und immer wird diese Mechanik von Menschen für ihre Interessen genutzt und entsprechend angetrieben, abhängig von ihrer jeweiligen Kompetenz und Macht, sich dieser zu bedienen. Die einen wollen den Dieselmotor für Panzer verwenden, die nächsten für Güterzug-Loks und wieder andere für Luxus-Limousinen.

3. Es gibt keinen einheitlichen Weg zur sozialistischen Transformation. Die politische Arbeit in Richtung Sozialismus bzw. der Beseitigung der negativen Auswüchse des Kapitalismus wird sich sehr unterschiedlich gestalten, je nachdem ob in einem Land die destruktiven Kräfte die Oberhand haben oder ob die konstruktiven am Schalthebel stehen. Das heißt konkret: im heutigen China stehen die Chancen besser als im Einflussbereich des US-Imperialismus. Wer aber unter imperialistischen Verhältnissen lebt, dessen erste Priorität ist es, dessen Joch abzulegen. Damit ist nicht zwangsläufig das Ziel verbunden, den Kapitalismus als solchen zu überwinden, obwohl das in Kuba z.B. der Fall war und ist.

Entsprechend müssten sich die strategischen Überlegungen einer wahrhaft sozialistischen Partei gestalten. Für uns in Deutschland heute muss der Ausgangspunkt die Realität des US-Imperialismus sein, dem Pol, an dem sich alles, was auf der Welt geschieht, ausrichtet. Der Sozialismus scheint mir hierzulande nicht auf der Tagesordnung zu stehen.

4. Schulden sind kein spezifisch kapitalistisches Phänomen. Seit es Geld gibt besteht das Problem der verzinsten Kredite und der Unmöglichkeit der realen Produktion mit dem exponentiellen Wachstum der Zinsen Schritt zu halten. Schulden spielen im Kapitalismus eine extrem wichtige Rolle. Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft jedoch mit Schulden umgeht, ist nicht in erster Linie die Frage der Wirtschaftsordnung, sondern eine des politischen Entscheidungswillens. Auch bei einem Schuldenschnitt könnte der Kapitalismus als Wirtschaftsordnung weiter bestehen, er würde diese sogar stabiler machen.

5. Die Klassenherrschaft des Proletariats führt nicht automatisch zu einem besseren Mensch-Natur-Verhältnis und beseitigt auch nicht jede Ungleichheit.

Der Kapitalismus verwandelt Mensch und Natur in Waren, stößt aber damit an die Reproduktionsgrenze. Er kann auf Dauer nur funktionieren, wenn er die Reproduktion gewährleistet. Das aber passt weder zum Motiv der Profitgenerierung, noch zu privat getroffenen Investitionsentscheidungen, noch zur privaten Aneignung der Ergebnisse der Arbeit.

Produzenten mit Entscheidungsgewalt werden jedoch – trotz besserer Voraussetzungen dazu – diese Widersprüche nur überwinden, wenn sie aus ihrer Produzentenrolle heraustreten und sich als gerechte menschliche „Raumschiff-Gesellschaft“ formieren. Aus der politischen Diktatur des Proletariats folgt dieser Schritt genauso wenig automatisch wie aus der Kontrolle der Produktion durch die Produzenten.

Wenn es stimmt, dass die soziale Ungleichheit mit der dauerhaften Delegation der Sorge für das persönliche Wohl einer Menschengruppe an eine andere anfing, dann hat diese Ungleichheit sehr wenig damit zu tun, wie die Menschen die Produktion gestalten. Auch eine sozialistische Gesellschaft könnte Frauen zur alleinigen Übernahme der Verantwortung für die Sorge- und Reproduktionsarbeit verpflichten und Ihre Entfaltungsmöglichkeiten auf diese Rolle reduzieren. Denkbar wären sogar kulturelle Gegebenheiten, in denen genau das von der Mehrheit einer Gesellschaft gewünscht und nicht als ungerecht empfunden würde.

Auch in einer sozialistischen Gesellschaft würde nicht automatisch die Zerstörung der Umwelt aufhören, denn so einfach lässt sich der Widerspruch zwischen dem Wunsch nach hohen Lebensstandards und der Endlichkeit der Natur nicht lösen.

Die vorkapitalistischen Klassen-Gesellschaften lebten nicht alle im Einklang mit der Natur und nicht alle Ungleichheit dort folgte direkt aus den Klassenverhältnissen. Ebenso wenig folgen also aus der Überwindung der kapitalistischen Klassenverhältnisse automatisch wiederhergestellte gute Mensch-Natur-Verhältnisse und egalitäre Mensch-Mensch Beziehungen.

6. Ein weiterer Grund, warum das Paradigma Arbeiterklasse – Bourgeoisie aus meiner Sicht nicht bis zu Ende trägt, hängt mit dem gerade Beschriebenen zusammen: das Ganze, in diesem Fall die sozialistische „Raumschiff-Gesellschaft“, ist weitaus mehr als die Summe ihrer Einzelteile. Die Produzenten können von ihrem Standpunkt aus das große Ganze nicht erkennen und auch nicht gestalten. Dafür bedarf es einer übergeordneten Instanz, eines Staates, der die Einzelteile ordnet und lenkt. Das ist schon im Kapitalismus so. Egal in welcher Ausformung – der Kapitalismus braucht den Staat, und zwar den nationalen, selbst wenn er mit dem Anspruch antritt, alle nationalen Grenzen überwinden zu wollen. Das gilt für den Sozialismus um so mehr. Dementsprechend bewegen sich Sozialisten in dem Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach unmittelbarer Demokratie und der Notwendigkeit der Wahrnehmung des Allgemeininteresses aus einer Sicht von oben. Schon allein deswegen ist die Unterscheidung zwischen Demokratien und Autokratien, die heute so eine große Rolle spielt, irreführend. Man braucht hoch qualifizierte Offiziere, noch höher qualifiziertere Kapitäne und geschulte Mannschaften, die alle einem gemeinsamen Ganzen verpflichtet sind, man benötigt Mechanismen, die dafür sorgen, dass das so bleibt, die aber auch immer wieder neu justieren, was denn das gemeinsame Ganze ausmacht.

Das alles sind also Gründe, die uns (unseren „dreimallinks-Blogger-Kreis) dazu bewogen, über eine neue Perspektive nachzudenken, in der diese Punkte aufgehoben sind, aber auch das marxistische Denken und der wissenschaftliche Sozialismus.

Viele gute Wissenschaftler untersuchen die Welt sehr genau und umfassend, um Ordnung in das uns umgebende Chaos zu bringen. Demgegenüber erscheint dieser Text oberflächlich und vielleicht sogar grob vereinfachend. Das musste sein, denn es ging darin um das Skizzieren des Paradigmas, der Linse, unter der all das viele empirische Material zu betrachten und besser zu verstehen wäre. Die wirkliche Frage, die an unseren Ansatz zu stellen wäre, ist, ob das gewünschte bessere Verständnis mit dessen Hilfe gelingt, und ob dieses Verständnis zu überzeugenderen strategischen Überlegungen und Handlungsoptionen führen könnte.

1Graeber / Wengrow: Anfänge 2022

3Ingmar Szolty: Knoten im Kopf, Junge Welt 1.3.2023

Ein Gedanke zu „Paradigmenwechsel

  • Der letzte Stand des Irrtums zum Inhalt:

    0 Vorwort
    1 Sozialismus – notwendig, aber bedeutungslos?
    2 Paradigmenwechsel
    3 Das Imperium, von dem niemand spricht.
    4 Sozialismus oder Barbarei?
    5 Alternativlose Globalisierung?
    6 Der Weg zum Superimperialismus
    7 Unipolare Theorie und Praxis: Superimperialismus
    8 Im Werden: die multipolare Welt
    9 Sozialistische Politik heute

    Vermutlich fehlt noch ein Kapitel zum Thema „Umwelt und Soziales“

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