(am 1. Juli unter dem Titel ‚Vom Helden zum Bösewicht‘ zuerst erschienen bei Makroskop.)
Julian Assange darf nicht an die USA ausgeliefert werden. So entschied die Richterin am 4. Januar 2021 in erster Instanz.
Diejenigen Unterstützer*innen, die annahmen, er käme nun frei, hatten den Sekt zu früh aufgemacht: die Richterin lehnte zwei Tage später seinen Kautionsantrag wegen Fluchtgefahr ab, solange nicht über den Berufungsantrag der US-Seite entschieden sei. Wann dies sein wird, ist bis heute ungewiss.
So wird Assange am 3. Juli mehr als 10 Jahre seines Lebens in Gefangenschaft verbracht haben,
davon die letzten zwei Jahre im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, das ansonsten Schwerverbrechern und Terroristen vorbehalten ist. Hinter ihm liegen Verhaftung wegen eines europäischen Haftbefehls aus Schweden, Hausarrest, Bewilligung von Schwedens Auslieferungsantrag, politisches Asyl in der Botschaft von Ecuador (von einer UN-Kommission als willkürliche Inhaftierung beurteilt; Assange konnte die Botschaft nicht verlassen, denn ein Polizeiaufgebot rund um die Uhr hätte für seine sofortige Verhaftung gesorgt), Aufhebung des Asyls durch die neue Regierung Ecuadors, Verhaftung wegen Verstoß gegen Bewährungsauflagen, die Höchststrafe von 50 Wochen längst abgesessen. (Auch Navalny wurde übrigens wegen Verstoß gegen Bewährungsauflagen verhaftet. Sollte politisches Asyl nicht auch als Ausnahmetatbestand gelten, wie Navalnys Vergiftung?). Weiter keine Freilassung auf Kaution, selbst unter Corona-Bedingungen, also faktische Einzelhaft.
So sehr das Urteil zu begrüßen ist, ist es leider kein Grund zum Feiern, denn die Richterin gab der Anklage in allen Punkten recht, nur sein Gesundheitszustand und die drohende Selbstmordgefahr – der Prozess zeigte schonungslos auf, wie schlimm die Haftbedingungen in den USA für Gefangene wie Assange sind, die unter ‚special administrative measures‘ gestellt werden und damit 23 Stunden am Tag alleine in einer Zelle verbringen – verbiete ein Auslieferung. Belmarsh war offensichtlich trotzdem zumutbar, unter Corona Bedingungen bekam Assange weder Besuch von seiner Familie noch von seinen Rechtsanwälten. Vor einigen Tagen konnte seine Verlobte ihn mit den gemeinsamen Kindern zum ersten Mal nach acht Monaten wieder besuchen und berichtet von seiner schweren Niedergeschlagenheit.
„But then they took him to the jailhouse
Where they try to turn a man into a mouse“
Der UN-Sonderberichterstatter für Folter Nils Melzer hat Assange mit zwei auf Folterfolgen spezialisierten Ärzten in Belmarsh besucht. Alle drei kamen unabhängig von einander zu dem Schluss, dass Assange deutliche Anzeichen schwerer psychischer Folter zeigt. Melzers Eingaben an die verantwortlichen Regierungen wurden ignoriert. Deswegen hat er sich dazu entschlossen, selbst whistleblower zu werden und das Buch ‚Der Fall Julian Assange‘, den er als einen der größten Justizskandale aller Zeiten bezeichnet, veröffentlicht (hier eine Rezension).
So schlimm die Lage Assanges ist, für unabhängigen Journalismus ist das Urteil eine Katastrophe. Eine Verurteilung in den USA würde einen Präzedenzfall darstellen.
Angeklagt ist er unter dem Espionage Act von 1917 in 18 Anklagepunkten wegen Beschaffung, Besitz, Verschwörung zur Veröffentlichung und Veröffentlichung geheimer Informationen, die zusammengenommen 175 Jahre Haft bedeuten. Das sind aber alles Dinge, die zum Job investigativer Journalisten gehören. Daniel Elsberg, der Herausgeber der Pentagon Papiere wurde nicht angeklagt, und auch die Obama-Administration schreckte wegen des ‚New York Times Problems‘ vor einer Anklage Assanges zurück, obwohl sie hart gegen die Whistleblowerin Chelsea Manning vorging. Die Washington Post schrieb 2013: „“Wenn das Justizministerium Assange anklagen würde, müsste es auch die New York Times und andere Nachrichtenorganisationen und Autoren anklagen, die geheimes Material veröffentlicht haben, einschließlich der Washington Post und der britischen Zeitung Guardian„. Und auch die deutschen Zeitschriften ‚Spiegel‘ und ‚Freitag‘.
Präsident Trump entschied sich, einen Schritt weiter zu gehen, und die Biden-Administration hat die Anklage nicht zurückgezogen.
In den USA hat Assange keinen fairen Prozess zu erwarten. Dazu einer der Vorgänger von Nils Melzer im Interview:
„In Wahrheit würde er aber an einem Gericht im Eastern District of Virginia angeklagt werden. Das ist die Gegend, in denen die Nachrichtendienste der USA angesiedelt sind. Eine Jury würde dort, das zeigen frühere, ähnliche Fälle, gegen Assange entscheiden. Ein faires Verfahren, das den Grundsätzen der europäischen Menschenrechtskonvention entspricht, ist zu bezweifeln.“
Wie Daniel Elsberg, der als Zeuge im Assange-Prozess auftrat, die Verbrechen des Vietnamkriegs aufdeckte, machte Assange u.a. die Hintergründe des Irakkrieges und des Kampfes gegen den Terror publik – der Prozess geriet für die, es hören wollten (und konnten – wegen Corona war die Öffentlichkeit stark eingeschränkt und auch online wurden viele interessierte Organisationen, wie z.B. Amnesty oder ‚Reporter ohne Grenzen‘ von der Richterin nicht zugelassen), zur Anklage gegen US-Kriegsverbrechen. Alle von Wikileaks verbreiteten Informationen entsprechen den Tatsachen. Auch der Vorwurf, Assange hätte mit der Veröffentlichung Menschenleben gefährdet, wurde schon im Prozess gegen Manning entkräftet.
Der beste Chronist des Prozesses, der ehemalige britische Diplomat Craig Murray, der trotz seiner schlechten Gesundheit täglich drei Wochen lang in der Besuchergalerie saß und abends im Hotel die Geschehnisse aufschrieb und auf seinem Blog veröffentlichte, wurde übrigens in einem fragwürdigen Urteil zu acht Monate Gefängnis verurteilt. Dies aufgrund seiner Blog-Artikel zum Prozess gegen den ehemaligen schottischen First Minister Alex Salmond wegen sexueller Übergriffe, derer dieser von einer vorwiegend weiblichen Jury für nicht schuldig befunden wurde.
Der Direktor von Amnesty International für Europa schrieb:
„… die Anklagen gegen ihn [Assange] hätten erst gar nicht erhoben werden dürfen. Die Vorwürfe waren politisch motiviert und die britische Regierung hätte die US-Regierung nicht so bereitwillig bei der unerbittlichen Verfolgung von Assange unterstützen dürfen.“
Das Auslieferungsverfahren zwischen den USA und Großbritannien schließt die Auslieferung aus politischen Gründen aus.
Dass ein Journalist, der nicht amerikanischer Staatsbürger ist und Informationen außerhalb der USA verbreitete, von den USA wegen Spionage angeklagt werden kann, ist ein massiver Anschlag auf die Pressefreiheit. Deswegen behält sich auch die Verteidigung vor, Berufung gegen das Urteil einzulegen.
„And the newspapers, they all went along for the ride
How can the life of such a man
Be in the palm of some fool’s hand
To see him obviously framed
Couldn’t help but make me feel ashamed to live in a land
Where justice is a game“
Mit Wikileaks hat Assange den investigativen Journalismus durch die Nutzung des Internets revolutioniert und das Verhältnis zwischen Macht und Öffentlichkeit grundlegend verändert. Obwohl inzwischen so gut wie alle Publizisten sich gegen seine Auslieferung ausgesprochen haben, wurde er in den letzten Jahren nur zögerlich unterstützt. Eigentlich hätten sie doch ihren Helden mit allen Mitteln verteidigen müssen, denn die wichtige Zeitungen haben von seiner Arbeit sehr profitiert, und nichts anderes als er getan, nämlich im öffentlichen Interesse Informationen veröffentlicht, die die Mächtigen lieber geheim gehalten hätten.
Zu erklären ist das erstens durch eine sehr erfolgreiche Schmierkampagne. Dazu Nils Melzer, der die schwedischen Unterlagen zu den Vergewaltigungvorwürfen in der Originalsprache lesen konnte:
„Bei Assange dachte ich: Der kann kein legitimes Anliegen haben. Das ist ein verwöhnter Junge, der Frauen belästigt hat und nun in einer Botschaft ein vergleichsweise schönes Leben hat. Ich dachte: Dem geht es doch gut, er hat ein Skateboard und eine Katze. Als ich mich dann doch auf den Fall einließ, musste ich feststellen: Nichts von diesem Narrativ stimmte. Es war ein Narrativ, das in die Welt gesetzt wurde, damit wir über eine Nebensache diskutieren: Ist Assange ein guter oder böser Mensch? Diese Diskussion dient der Ablenkung, damit nicht über das wirklich wichtige Thema diskutiert wird: nämlich die Kriegsverbrechen, die Folter und Korruption, die Assange und Wikileaks aufgedeckt haben. Der Aufklärer wurde kriminalisiert. Die wirklichen Verbrecher sind bis heute straflos, …“
Der zweite Grund heißt Trump. Viele Demokraten und Progressive in aller Welt werfen Assange vor, durch Veröffentlichung der Clinton-Emails (wegen derer er nicht angeklagt ist) Trump zur Präsidentschaft verholfen zu haben. Um Trump zu verhindern, hätte er die Emails nicht veröffentlichen dürfen. So wandelte er sich in ihren Augen vom Helden zum Bösewicht.
In seiner Ballade Hurricane erzählt Bob Dylan die Geschichte von der falschen Anklage und Verurteilung des schwarzen Boxers Rubin Carter wegen Mordes und greift den Rassismus des amerikanischen Justizsystems scharf an.
Welche Ironie dass nun so manche Kämpfer*innen gegen Rassismus und für Frauen- und LGBTQ- Rechte nichts dagegen haben, dass derjenige, der sich wie kein anderer für die weltweite Aufdeckung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit engagiert hat, jetzt ernsthaft Gefahr läuft, seine Haft nicht zu überleben.
Nachtrag:
Inzwischen hat der Kronzeuge für die von der amerikanischen Justizbehörde nachträglich eingereichten schweren Anklagepunkte in einem Interview gegenüber der isländischen Zeitung stunden ausführlich dargelegt, dass seine Darstellung in den meisten Punkten erlogen ist. Die Zusammenhänge zum Prozess erklärt Craig Murray. Ein weiterer Punkt, weswegen sein Auslieferungsantrag sofort abgewiesen werden müsste.
Die MSM Medien berichteten zwar über die bevorstehende Heirat Assanges, nicht aber über diese grundlegende Entwicklung. Kompletter Medienblackout!
Dazu schreibt Caitlin Johnston:
„Bit by bit the belief that the press has a moral obligation to suppress newsworthy stories if there’s a possibility that they could benefit undesirable parties foreign or domestic became the prevailing orthodoxy in mainstream news circles.“
Das sei ein bemerkenswertes, relativ neues Phänomen.
Zuvor schon war bekannt, dass Assange in der Botschaft rund um die Uhr abgehört und gefilmt wurde, und die Aufzeichnungen, u.a. der Gespräche mit seinen Rechtsbeiständen und Ärzten, zusammen mit allen seinen Unterlagen, die er in der Botschaft zurücklassen musste, an die CIA weitergegeben wurden. Auch so etwas in einem Rechtsstaat undenkbar.