Aus der Antisemitismus-Debatte möchte sich jeder Mensch heraushalten, dem an seiner geistigen Gesundheit und bisweilen auch an seiner Karriere liegt.
Nur, es geht nicht, wenn Jazzclubs boykottiert werden, in denen ein angeblich anti-semitischer Saxophonist auftreten möchte, wichtige politische Projekte, wie das der Labour-Party unter Corbyn zerstört werden, und das Leid der Palästinenser im öffentlichen Diskurs verdeckt wird.
Aber was ist eigentlich Antisemitismus?
Die IHRA-Definition
Im Jahr 2016 wurde von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) die IHRA-Definition verabschiedet. Auch die Bundesregierung hat diese Definition zu ihrer Arbeitsgrundlage erklärt. Problematisch daran ist, dass in dieser Definition Kritik am Staat Israel und der Einsatz für die Rechte der Palästinenser schnell als antisemitisch angesehen werden kann. Die regierungs-offizielle Antisemitismus-Definition enthält z.B. folgenden Passus:
„Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher [anti-semitischer] Angriffe sein.“
So gilt danach auch die BDS-Bewegung als antisemitisch, in der die palästinensische Zivilgesellschaft
„inspiriert vom Kampf der Südafrikaner*innen gegen Apartheid zu Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel aufruft, bis dieses internationalem Recht und den universellen Prinzipien der Menschenrechte nachkommt.“
(hier gibt es mehr Infos dazu)
Das kann schwerwiegende Folgen haben. So hat z.B. die amerikanische Journalistin Abby Martin, die die Dokumentation ‚Gaza fights for freedom‘ gedreht hat, gegen ein Redeverbot des Universitätssystems von Georgia, USA geklagt, das sie für die Weigerung bekommen hatte, den staatlich vorgeschriebenen Eid zu unterschreiben, sich nicht an Boykotten gegen Israel zu beteiligen. Nahezu wider Erwarten gab das Gericht ihr recht.
Auch die erfolgreiche Antisemitismus-Kampagne gegen den ehemaligen britischen Labour-Chefs Jeremy Corbyn konnte sich auf diese Definition stützen. Tony Greenstein schildert ausführlich, wie es gelang, den Antirassisten und Unterstützer der Palästinenser Corbyn und viele andere Labour-Mitglieder als Antisemiten darzustellen und letztendlich damit dessen anti-neoliberales Projekt zu Fall zu bringen.
Tony Greenstein war das erste Opfer der Kampagne, der erste, der wegen vorgeblichem Antisemitismus aus der Partei ausgeschlossen wurde.
Die Jerusalemer Erklärung
Im März dieses Jahres nun wurde eine neue Antisemitismus Definition veröffentlicht, die Jerusalemer Erklärung.
„Die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus reagiert auf die „IHRA-Definition“, die 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) angenommen wurde. Da die IHRA-Definition in wichtigen Punkten unklar und für unterschiedlichste Interpretationen offen ist, hat sie Irritationen ausgelöst und zu Kontroversen geführt, die den Kampf gegen Antisemitismus geschwächt haben. […]
Wir empfehlen unsere nicht rechtsverbindliche Erklärung als Alternative zur IHRA-Definition. Institutionen, die die IHRA-Definition bereits übernommen haben, können unseren Text als Hilfsmittel zu ihrer Interpretation nutzen.
Die IHRA-Definition enthält elf „Beispiele“ für Antisemitismus, von denen sich sieben auf den Staat Israel beziehen. Dies legt zwar einen unangemessenen Schwerpunkt auf einen bestimmten Schauplatz; allerdings besteht wirklich ein großer Bedarf an Klarheit über die Grenzen legitimer politischer Äußerungen und Handlungen in Bezug auf Zionismus, Israel und Palästina.
Wir verfolgen ein doppeltes Ziel: (1) den Kampf gegen Antisemitismus zu stärken, indem wir definieren, was Antisemitismus ist und wie er sich manifestiert, und (2) Räume für eine offene Debatte über die umstrittene Frage der Zukunft Israels/Palästinas zu wahren. Wir sind nicht alle der gleichen politischen Meinung und wir verfolgen keine politische Parteinahme. Die Feststellung, dass eine kontroverse Ansicht oder Handlung nicht antisemitisch ist, bedeutet weder, dass wir sie befürworten, noch dass wir sie ablehnen.“
Die palästinensische Sicht
Während die BDS-Kampagne grundsätzlich diese Erklärung begrüßt, merkt sie in ihrer Stellungnahme an:
„Dennoch sind Palästinenser*innen, die Palästina-Solidaritätsbewegung und alle progressiven Menschen dazu angehalten, sich der JDA kritisch und mit Vorsicht zu nähern, da sie einige inhärente Mängel aufweist:
- Mit ihrem unglücklichen Titel und den meisten seiner Leitlinien konzentriert sich die JDA auf Palästina/Israel und den Zionismus, was ungerechtfertigterweise die Versuche bestärkt, antijüdischen Rassismus mit dem Kampf für die palästinensische Befreiung zu verbinden und somit unseren Kampf beeinträchtigt.
Trotz dieser Auswirkung schließt die JDA repräsentative palästinensische Perspektiven aus, eine Auslassung, die ziemlich viel über asymmetrische Macht- und Herrschaftsverhältnisse aussagt und darüber, wie einige Liberale immer noch versuchen, Entscheidungen, die uns zutiefst betreffen, ohne uns zu fällen.
Palästinenser*innen können nicht zulassen, dass irgendeine Definition von Antisemitismus verwendet wird, um das Eintreten für unsere unveräußerlichen Rechte oder die Schilderung unserer gelebten Erfahrungen und unserer evidenzbasierten Geschichte des Kampfes gegen Siedlerkolonialismus und Apartheid zu kontrollieren oder zu zensieren.- Die schlecht durchdachte Auslassung jeglicher Erwähnung der weißen Vorherrschaft und der extremen Rechten, den Hauptschuldigen hinter antisemitischen Angriffen, lässt die extreme Rechte unbeabsichtigt vom Haken, trotz einer beiläufigen Erwähnung in den FAQ. Die meisten rechtsextremen Gruppen, besonders in Europa und Nordamerika, sind zutiefst antisemitisch, lieben aber Israel und sein Unterdrückungsregime.
- Trotz der Zusicherung der Meinungsfreiheit in ihren FAQ wird in den “Leitlinien” der JDA immer noch versucht, einige kritische Äußerungen über Israels Politik und Praktiken zu kontrollieren, wobei sie die notwendige Unterscheidung zwischen Feindseligkeit oder Vorurteilen gegenüber Jüdinnen und Juden auf der einen Seite und legitimer Opposition gegen israelische Politik, Ideologie und das Unrechtssystem auf der anderen Seite nicht vollständig aufrechterhalten.“
Deutlicher kann man das Grundproblem der asymmetrischen Definitionsmacht kaum ausdrücken:
Die Palästinenser werden nicht gefragt!
Absurde Nebenschauplätze
Aber es gibt auch absurde Nebenschauplätze: Der oben erwähnte Tony Greenstein schreibt in seinem Text über Corbyn:
„Antisemitism is not what some idiot writes on social media bearing in mind that one person can post a million tweets. Antisemitism is what people do to Jewish people not what they tweet about. No one died from a tweet.“
Wie passt das dazu, dass er selbst mit allen Mitteln versuchte, dem Saxophonisten Gilad Atzmon wegen dessen vorgeblich antisemitischen Äußerungen Redeverbot zu erteilen? Rede- und Auftrittsverbote gehören inzwischen für den Jazzmusiker und Autoren schon fast zum Alltag. Und häufig scheinen es anti-zionistische Juden zu sein, die den entsprechenden Druck aufbauen, den auch ich schon zu spüren bekam.
Und dann gab es da noch die Toilettenaffäre mit Gregor Gysi und Max Blumenthal, auch der ein Jude, der sich unermüdlich für die Rechte der Palästinenser einsetzt, und als vorgeblicher Antisemit in Deutschland Redeverbot bekam.
Man bedenke, man kann Antisemitismus definieren wie man möchte, Straftatbestände müssen bei Überschreitung der definierten Grenzen noch lange nicht vorliegen.
Im Urteil zur Strafbarkeit von Holocaust-Verharmlosung urteilte das BVerfG, dass die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes vielmehr darauf setze, dass solchen Äußerungen, die für eine demokratische Öffentlichkeit schwer erträglich sein können, grundsätzlich nicht durch Verbote, sondern in der öffentlichen Auseinandersetzung entgegengetreten wird. Die Meinungsfreiheit finde erst dann ihre Grenzen im Strafrecht, wenn die Äußerungen in einen unfriedlichen Charakter umschlagen. Und in Deutschland gibt es im Vergleich zu anderen Ländern strenge Gesetze zur Volksverhetzung!
Redeverbot statt öffentlicher Auseinandersetzung?
Jedenfalls: Ich habe mit Gilad Atzmon gesprochen, das Ergebnis liegt vor, und jeder, der will, möge sich selbst ein Bild davon machen, ob hier Gedanken gewälzt wurden, die am besten verboten gehören, zumindest aber keinesfalls eine Plattform bekommen dürfen, weil sie so gefährlich sind, dass die faktische Einschränkung der freien Meinungsäußerungen durch Auftritts- und Redeverbote gerechtfertigt ist. Ob man mit den Ansichten, die er auf seiner Homepage und in Büchern und Reden vertritt, einverstanden ist, steht auf einem ganz anderen Blatt.
Meine Gespräche mit Gilad
3-Geschichtsschreibung_als-Prozess
4-Antisemitismus_Rassismus_und_kulturelle_Identität
5-Prätraumatisches_Belastungssyndrom, Zionismus und Imperium
6-jüdische _Macht_und Identitätspolitik
7-globale_Stammesverbände_und_nationaler _Überschwang
8-Auf_der_Suche_nach_dem_Weg_nach_Hause Can`t find my home! (Von den unvergesslichen Clapton, Winwood etc.)
Meine Texte im Zusammenhang mit dem Auftrittsverbot für Gilad Atzmon 2018 in Berlin
Gilad Atzmon, die Meinungsfreiheit und ich