Mit kapitalistischer Dynamik und Klimabewegung ins sozial-ökologische Utopistan?
Oder werden wir alle exterminiert?
Einer der Gründe für die „Aggressivität des Putinismus“ und den Ukraine-Krieg ist nach Klaus Dörres Auffassung die Bedrohung seines Geschäfts- und Herrschaftsmodells durch die globale Energiewende. Schließlich beruhen bis zu 43% der Einnahmen auf den Exporten fossiler Energien. In der Zeitschrift ‚Sozialismus‘ (Heft 4-22) schreibt er:
„ … die Russische Föderation [würde] ohne radikalen wirtschaftlichen Strukturwandel unweigerlich zu den Verlierern einer Nachhaltigkeitswende in den Abnehmerstaaten gehören […]. Je rascher dort [z.B. in Europa] die Abkehr von fossiler Energie gelingt, desto wertloser werden russische Öl- und Gasvorkommen. Das dürfte einer der Hauptgründe dafür sein, dass die Zukunftsszenarien jenes Machtzirkels, mit dem sich der Autokrat Putin umgibt, ausgesprochen düster ausfallen.“
Jetzt sei aus russischer Sicht für die Umsetzung einer „aggressiven Hochrisikostrategie“ ein guter Zeitpunkt, um den „Würgegriff“ um den Hals des Westens legen. Die Nato sei durch die Niederlage in Afghanistan geschwächt, die EU zerstritten und in „ihrem Inneren mit den Praktiken sogenannter illiberaler Demokratien etwa Polens und Ungarns konfrontiert“. Gleichzeitig dulde, wenn nicht gar unterstütze China die Vorgehensweise Russlands als Verbündeter.
Die aktuellen massiven Aufrüstungspläne sind nach Dörres Meinung die falsche Antwort, auch mit den bisherigen Mitteln könne man sich gegen ‚Putins‘ Expansionsdrang ausreichend verteidigen, die Rüstungsausgaben der Nato überstiegen die russischen jetzt schon um das Zwanzigfache. Die Aufgabe progressiver Kräfte sei es vielmehr „nach Ansatzpunkten für einen nachhaltigen Infrastruktursozialismus zu suchen, der mit Investitionen in die Ökonomie des Alltagslebens und die Daseinsvorsorge unmittelbar praktisch werden kann.“ Und da gäbe es Hoffnung, denn
„Wieder einmal sind es die Klimabewegungen, die diesen Worten Taten folgen lassen – mit Zehntausenden auf Demonstrationen gegen den russischen Angriffskrieg, aber auch mit der unmissverständlichen Forderung nach dem, was anstelle steigender Rüstungsausgaben wirklich hilft: ein Importstopp für russisches Erdgas und Erdöl, das zugleich die radikale Abkehr von fossilen Energien erzwingt.“
Die kalte Dusche kam von Alexander Mercouris:
Die EU sei ja nun bereit, sich auf den „Gas für Rubel“ einzulassen. Auch US-Finanzministerin Janet Yellen habe sich gegen ein Importverbot der EU für russisches Öl ausgesprochen. Das zeige einmal mehr, dass die Sanktionsstrategien nicht durchdacht gewesen seien. Auch wenn es seiner Meinung nach wirtschaftlich vernünftig sei, dass die Europäer russisches Öl und Gas und russische Kohle kauften, wäre es natürlich ihre Sache, sich dagegen zu entscheiden. Nur
„wenn sie diesen Weg einschlagen wollen, müssen sie sich Gedanken über die Energiewende machen, und der Bau von Windrädern ist realistischerweise nicht der richtige Weg, und der Bau von Atomkraftwerken dauert sehr lange und stößt auf massive politische Schwierigkeiten. Der Bau von Flüssiggasanlagen und all das ist möglich, aber es ist teuer und braucht viel Zeit, und es gibt vielleicht gar nicht so viel Flüssiggas, wenn man also so etwas machen will, muss man es sorgfältig durchdenken, man muss sich vorbereiten, man muss planen, man muss seinen Leuten, seinen Ingenieuren und seinen Spezialisten eine lange Vorlaufzeit geben, 10 vielleicht sogar 20 Jahre, es ist machbar, aber zu glauben, dass man das alles in ein paar Monaten erledigen kann, ist töricht.“ (Hervorhebungen und Übersetzung d. V.)
Er sei keineswegs davon überzeugt, dass die EU und die USA mit den jetzigen Entscheidungen endgültig vor Putin kapituliert hätten, dann aber sei in diesem Herbst und Winter noch mit viel höheren Energiekosten zu rechnen „mit der Aussicht auf weitere Störungen in den kommenden Monaten und Jahren.“
Und das wird dem Rechtspopulismus und den ‚Klimaskeptikern‘ weiter Aufwind geben, die Investitionen in die Energiewende für Geldverschwendung und Profitmacherei halten.
Mercouris bezweifelt selbst die Notwendigkeit und vor allem die Machbarkeit einer Energiewende, die vornehmlich auf erneuerbare Energien setzt. Damit irrt er sich meines Erachtens vom Grundsatz her. Aber die Realistin in mir muss ihm beipflichten, wenn er zu Bedenken gibt, was es tatsächlich technisch, politisch, sozial und ökonomisch heißt, die Energieversorgung eines Landes von Grund auf zu verändern. Das braucht komplexe, systematische Planung und gezielte Umsetzung dieser Planung über Jahre! Günstiges Gas als Übergangsenergieträger gehört dazu. Und vor allem internationale Kooperation. Szenarien wie man es machen könnte, und wie es tatsächlich zu schaffen wäre, gibt es. Aber von einer planvollen Umsetzung unter Berücksichtigung aller Faktoren kann bei uns nicht die Rede sein. Nachdem man die Energiewende jahrelang verschleppt und an den falschen Stellen zu stark auf den Markt gesetzt hat, während an anderen Stellen marktwirtschaftliche Initiativen bürokratisch gebremst wurden, und weltweit Konkurrenz statt Kooperation vorherrscht, stehen wir nun völlig unvorbereitet auf die jetzige Krise da. Dörre schreibt:
„Der jüngste Bericht des Weltklimarates IPCC lässt keine Zweifel. Etwa die Hälfte der Menschheit leidet bereits unter den Folgen des anthropogenen Klimawandels. UN-Generalsekretär Guterres erkennt darin kriminelles Versagen beim Klimaschutz. Obwohl sich das Zeitfenster für wirksame Gegenmaßnahmen schließt, steht bereits fest, dass die Hürden für eine Nachhaltigkeitsrevolution künftig noch höher werden. Hauptgrund ist der Krieg.“
Ist es tatsächlich ‚Putin‘, der die Schuld für die Verschleppung der Energiewende trägt? Ist es nicht vielmehr so, dass diejenigen, die schon bisher alles taten, um diese zu verhindern, nun einen willkommenen Vorwand mehr haben? Putin. Trump. Le Pen wurde‘ uns‘ ja nun gnädig erspart.
Nein, die Hauptursache dafür, dass die sozial-ökologische Transformation unserer Gesellschaft nicht voran kommt, ist im Westen selbst zu suchen. Geld bedeutet politische Macht. Und mit fossilen Energieträgern lässt sich immer noch immens viel Geld verdienen. Noch höhere Profite verspräche der direkte Zugriff westlicher Energie-Konzerne auf die russischen Energiefelder, ohne bei ‚Putins Oligarchen-Clique‘ einkaufen zu müssen, oder zumindest die Schwächung lästiger russischer Konkurrenz. Ein Schuft, der bei der Nato-Osterweiterung Böses denkt. Vielleicht hat die doch mehr mit ‚Putins Krieg‘ zu tun, als Dörre gelten lassen möchte?
Michael Hudson schreibt es sei 1991 die gemeinsame Erwartung in Russland und Westeuropa gewesen, dass deutsche, französische und andere Investoren die postsowjetische Wirtschaft nach effizienteren Grundsätzen umstrukturieren würden. Die Vereinigten Staaten hätten jedoch einen anderen Plan gehabt.
„Als Senator John McCain Russland als „eine Tankstelle mit Atombomben“ bezeichnete, war das der Traum der Amerikaner von dem, was sie aus Russland machen wollten – mit Russlands Gasunternehmen, die in die Kontrolle von US-Aktionären übergehen, beginnend mit der geplanten Übernahme von Yukos, wie sie mit Michail Chordokowski vereinbart wurde. Das letzte, was die US-Strategen sehen wollten, war ein blühendes, wiederbelebtes Russland. Die US-Berater versuchten, Russlands natürliche Ressourcen und andere nicht-industrielle Vermögenswerte zu privatisieren, indem sie sie Kleptokraten überließen, die den Wert dessen, was sie privatisiert hatten, nur durch den Verkauf an US-amerikanische und andere ausländische Investoren gegen harte Währung „abkassieren“ konnten. Das Ergebnis war ein neoliberaler wirtschaftlicher und demografischer Zusammenbruch in den postsowjetischen Staaten,“
den Putin teilweise revidierte. In gewisser Weise habe sich Amerika selbst in seine eigene Version einer Tankstelle mit Atombomben (und Waffenexporten) verwandelt. Ziel der US-Öldiplomatie sei es, den weltweiten Ölhandel zu kontrollieren, damit die enormen Gewinne den großen US-Ölkonzernen zufließen.
Es wäre äußerst erfreulich, wenn die Verantwortlichen aus der aktuellen Situation lernen und die Energiewende adäquat angehen und beschleunigen würden. Ich befürchte nur, dass die von Dörre begrüßte Schocktherapie das Gegenteil erreichen wird: Weder die Industrie noch die von hohen Energiepreisen betroffene Bevölkerung werden bereit sein, für die Freiheit der Ukraine und die Energiewende solch hohe Opfer zu bringen. Die geplante massive Aufrüstung, die ja auch sich als links verstehende Menschen wie Albrecht von der Lucke oder Wolfgang Thierse (Artikel in der FAZ vom 2. April 2022) für nötig halten, wird bei gleichzeitiger Schuldenbremse verhindern, dass die am stärksten betroffenen Bevölkerungsschichten einen wirksamen Einkommensausgleich erhalten, wie Dörre richtig anmerkt:
„Geld, das in expandierende Rüstungsetats fließt, wird fehlen, wenn es um die rasche Bekämpfung des Klimawandels und die soziale Abfederung des ökologischen Gesellschaftskonflikts geht.“
Und inwiefern Dörre die russische Situation richtig eingeschätzt hat, und der Stopp aller Öl- und Gasimporte dem Land tatsächlich so sehr schadet, dass Putins Macht gefährdet ist, ist offen. Der aktuelle Rubelkurs und seine Umfragewerte lassen daran Zweifel aufkommen.
Während Dörre einerseits die Gefahr sieht, dass der Ukraine-Krieg den „Utopieverlust verstärken und linke Politik vollständig marginalisieren“ könnte, setzt er andererseits darauf, dass soziale Bewegungen für Projekte, die die Lebenssituation der Menschen unmittelbar verbessern, wie z.B. Bürgerenergieprojekte oder verbesserte Kitabetreuung, die Kraft haben könnten, die rechtspopulistischen Tendenzen hierzulande einzudämmen und den ‚Putinismus‘ gleich mit. Helfen dabei werde die Dynamik des Kapitalismus selbst. Denn in der „Zangenkrise“, in dem dieser sich befände, stünde dem „systemischen Zwang zur Marktexpansion und erweiterter Reproduktion des Kapitals“, der dazu führe, dass sich kapitalistische Marktimperative – Akkumulationszwang, Ausbeutung von Lohnarbeit und ökonomischer Wachstumsdrang – weltweit verallgemeinern,“ die Notwendigkeit gegenüber, immer „komplexere Selbststabilisierungsmaßnahmen“ zu entwickeln. Denn gleichzeitig bedrohe ja auch die ökologische Krise seine Existenz. Aus diesem Grund müssten „Gesellschaften für die soziale und institutionelle Einbettung der Märkte“ Sorge tragen. Demnach verstärkt also die kapitalistische Dynamik die Kraft sozialer Bewegungen, und diese tragen dazu bei, den Kapitalismus vor sich selbst zu retten.
Hoffen wir nur, dass unsere Entscheidungsträger (die in Dörres Text im Gegensatz zu Putin als interessenbehaftete Agenten so gut wie gar nicht in Erscheinung treten) das auch einsehen. Sonst könnte sich auch bei uns im Westen, wie in Russland nach Dörres Meinung schon geschehen, der
„latente Exterminismus kapitalistischer Gesellschaften und ihrer Eliten“ durchsetzen, nämlich „der Drang zur Auslöschung, gleichbedeutend mit dem letzten Stadium menschlicher Zivilisation, der seine „strukturellen Wurzeln in einer beständigen Vergrößerung des militärischen Sektors kapitalistischer wie staatssozialistischer Gesellschaften“ hat.
us sagt:
Wallstreet is the problem, not Putin!
us sagt:
Das ist natürlich plakativ. Was ich aber vermisse, ist das Stellen der Machtfrage:
In Bezug auf Putin redet Dörre ständig von der Macht. In Bezug auf den Westen wird konzediert, dass die Demokratie brüchig sei, aber es gäbe ja demokratische Institutionen, die die Macht korrigierten, was es in Russland nicht gebe. Immerhin sei Trump abgewählt worden. Dass aber Biden, selbst wenn er seine ganzen Klimapläne ernst gemeint hat, an der Macht der Konzerne scheiterte, die ja so gut wie alle Kongress-Abgeordneten finanziell in der Tasche haben (das ist ja keine Verschwörungstheorie sondern öffentliches Faktenwissen), ist jetzt offensichtlich. Die Ölindustrie und der militärisch-industrielle Komplex haben vorerst auf der ganzen Linie gewonnen.
Darauf finde ich bei Dörre die Antwort, dass es die Dynamik des Kapitalismus selbst ist, die das in unseren einigermaßen demokratischen Gesellschaften korrigiert. Daran habe ich erhebliche Zweifel. Die wirklich Mächtigen interessieren sich nicht mehr dafür, dass unsere Gesellschaften funktionieren, sie nehmen für ihren Profit die Verarmung der Massen in Kauf, früher nur im Süden. Heute auch bei uns. Deswegen müssen sich richtige Linke intensiv mit der Frage befassen, wer die Macht in den einzelnen Staaten und vor allem auch international hat bzw. haben sollte. Power struggles are not pretty. Dazu schrieb Bertholt Brecht:
as sagt:
Auch in einer friedlichen multipolaren Welt, in der die Großmächte grundsätzlich die Existenzberechtigung und die Souveränität der anderen anerkennen und respektieren, wäre eine rechtzeitige, erfolgreiche, weltweite Dekarbonisierung ein gigantischer Kraftakt, der eine massive internationale Kooperation nötig macht. Dabei müssten die vitalen Interessen aller berücksichtigt werden.
Der aktuelle Konfrontationskurs des Westens, der versucht, Russland in die Knie zu zwingen, torpediert solche Anstrengungen schon im Ansatz.
us sagt:
Das sagt Xi Jinping (ist natürlich alles nur Propaganda ;-))
us sagt:
Und Rainer Mausfeld sagt:
Fast alle politischen Lager scheinen sich heute einig zu sein, dass Russland durch seinen Angriff auf die Ukraine das Recht verwirkt hat, an diesen Prozeduren beteiligt zu werden. Das mag eine moralisch hochstehende Position sein. Sie führt aber direkt in die Klimakatastrophe und in den Atomkrieg.