Der bekannte Politikwissenschaftler John Mearsheimer sagte vor ein paar Tagen: „Die Gletscherplatten der Geopolitik verschieben sich.“ Wir befinden uns an einem Wendepunkt. Als Europäer mag man es als starkes Stück empfinden, wenn man von einem US-Vizepräsidenten für eine Politik kritisiert wird, die einem seit mehr als 20 Jahren von seinen Vorgängerregierungen mehr oder weniger aufgezwungen wurde. Aber: Die Europäer haben diese Politik willfährig mitgetragen, zum Teil wider besseres Wissen. Vermutlich erlagen sie auch der fatalen Fehleinschätzung, man sei – zusammen mit den USA – der russischen „Tankstelle mit Atomwaffen“ weit überlegen. So gab man nach und nach die Entspannungspolitik auf, der wir die Wiedervereinigung verdanken. Und das industrielle Geschäfts- (und Energiewende-)Modell, das auf guten Beziehungen zu Russland und dem Bezug günstigen Pipeline-Gases beruhte, ebenfalls.
Als im Jahr 2008 der Beschluss zur Einladung der Ukraine in die NATO gefasst wurde, soll Angela Merkel gesagt haben, die Entscheidung käme einer Kriegserklärung gegen Russland gleich. Trotzdem stimmte sie, wie alle anderen europäischen Verantwortlichen, dem – leicht abgeschwächten – Beschluss zu. Vor dem hatten übrigens auch viele andere prominente westliche Politiker gewarnt. Das desaströse Ergebnis am Ende einer nun fast 20-jährigen Entwicklung: Vermutlich werden in Kürze in Saudi Arabien die entscheidenden Weichen für die künftige europäische Sicherheitsordnung gestellt – und kein Europäer sitzt mit am Verhandlungstisch. Das hat es in der langen Geschichte Europas noch nie gegeben. Wir scheinen wohl gerade in unser eigenes „Jahrhundert der Demütigung“ einzutreten. Und ehe wir uns nun wie Kleinkinder schreiend am Boden wälzen und uns über die Gemeinheit dieser Situation beschweren, sollten wir innehalten und akzeptieren, dass die Schuld dafür fast ausschließlich bei uns Europäern, oder genauer gesagt bei unserer äußerst inkompetenten politischen Klasse liegt, wie Arnaud Bertrand zu Recht feststellt. Dieser sei es „gelungen, Europa auf eine Position zu reduzieren, für die es keine historische Parallele gibt. Von uns wird erwartet, dass wir einfach akzeptieren und umsetzen, welche Sicherheitsvorkehrungen andere für uns beschließen.“
Ein Meilenstein auf dem Weg in dieses Desaster waren sicher die Minsk-Vereinbarungen. Diese wurden 2014 von vielen als Ausdruck strategischer Souveränität Europas begrüßt. Ohne US-Beteiligung wurde ein Fahrplan für die Lösung des Ukraine-Konflikts vereinbart, der anschließend auch vom UN-Sicherheitsrat bekräftigt und damit völkerrechtlich gültig wurde. Im Laufe der Jahre wurden von europäischer Seite aus immer wieder Vorwürfe an Russland wegen der Nichteinhaltung der Vereinbarungen erhoben und auch Sanktionen gegen das Land ausgesprochen. Aber später ließen nicht nur der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko, sondern auch Angela Merkel und Francois Hollande, die in den Verhandlungen federführenden europäischen Regierungschefs, das erstaunte Publikum wissen, dass sie nie ernsthaft an die Umsetzung gedacht hätten. Man hätte lediglich Zeit zur militärischen Stärkung der Ukraine gewinnen wollen. Die vermeintlich souveräne europäische Initiative erscheint so im Nachhinein als bewusste Täuschung im Namen der zu dieser Zeit von den USA verfolgten antirussischen Strategie. Wer nimmt solche Verhandlungspartner noch ernst?
So kam es dann zum russischen Angriff, der wenn auch völkerrechtswidrig, so doch nach der Aufgabe des ukrainischen Neutralitätsstatus, der versprochenen Nato-Aufnahme, der massiven Aufrüstung (mit massiver Nato-Unterstützung) des Landes, dem Scheitern des Minsk-Prozesses und nicht zuletzt einer aggressiven Rede Selenskyjs auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2022 keineswegs völlig „unprovoziert“ war. Zudem die russischen Vertragsangebote für eine europäische Sicherheitsordnung vom Dezember 2021 von der NATO (und damit den Europäern) als indiskutabel angesehen wurden. Nun müssen wir erfahren, dass wir aufs falsche Pferd gesetzt haben, Russland doch stärker ist als gedacht und im Ukraine-Krieg die Oberhand behalten wird. Und die USA? Die ändern knall auf Fall ihre Prioritäten und lassen die Europäer auf einem Scherbenhaufen sitzen, inklusive der Anweisungen, wie der zu beseitigen ist. Schon fordert die SPD im Wahlkampf die Erklärung eines nationalen Notstands, damit noch mehr Geld für Aufrüstung locker gemacht werden und die Konfrontation mit Russland weitergehen kann. Es gehört schon viel Chuzpe dazu, gleichzeitig zu behaupten, das bei Sozialem und Umwelt keine Abstriche gemacht werden, bzw. dass der Schutz der Menschen vor der russischen Gefahr aus sozialen Erwägungen erfolgt. Alice Weidel von der AfD ist da ehrlicher. Sie trägt den Aufrüstungskurs im Namen der deutschen Souveränität gerne mit und drischt dafür auf die Bürgergeldbezieher als Empfänger leistungslosen Einkommens – und natürlich die Migranten – ein.
Ein weiterer Meilenstein auf dem Weg ins „Europäische Jahrhundert der Demütigung“ ist sicherlich auch die Sprengung von Nordstream 2: Wer könnte den Anblick eines geduckten Bundeskanzlers Scholz neben einem selbstgewissen Präsidenten Biden vergessen, der versprach, seine Regierung hätte genügend Mittel und Wege zur Verhinderung der Inbetriebnahme von Nordstream 2 – einem gemeinsamen Projekt zweier souveräner Staaten. Und so kam es auch. Wir wissen immer noch nicht, wer am Ende dafür verantwortlich war. Was wir aber wissen können, und was im Wahlkampf vor lauter Kritik an Bürokratie und Klimapolitik gerne vergessen wird, ist folgendes: Die teuren Energiepreise verdanken wir dem Konflikt mit Russland. Nicht etwa, weil Russland die Lieferungen einstellen wollte, sondern weil wir uns durch eine Sanktionspolitik (die sich im Nachhinein eher als Segen als als Fluch für Russland herausstellte) völlig freiwillig von diesen Gasreserven abgekoppelt haben. Und alle machten aus moralischen Gründen mit (auch die Partei „Die Linke“). Schließlich kann man nicht aus schnöden materiellen Erwägungen heraus mit einem Kriegsverbrecher Geschäfte machen. Da muss man schon mal Opfer bringen. Dass es auch diplomatische Lösungen für die Ukraine-Krise hätte geben können (und, wie sich nun hoffentlich herausstellen wird, auch gibt) wurde ebenfalls als moralisch verwerflich abgelehnt. Trotz des Friedensgebots der UN-Charta und unseres Grundgesetzes. (Nur das BSW verfolgte vorbehaltslos einen diplomatischen Kurs.) Stattdessen lernten ehemalige Kriegsdienstverweigerer massenweise, das Militär zu lieben. Materiell profitieren unter anderem US-amerikanische LNG-Exporteure und die Rüstungsindustrie. Und die teuren Investitionen in LNG-Terminals führen uns auf einen Energiepfad, der sicher nicht dazu beitragen wird, die CO2-Reduktionsziele zu erreichen. Es ist mehr als erstaunlich, dass eine angebliche Umweltpartei und ihr Wirtschaftsminister diese Zusammenhänge komplett ausblendet. Inzwischen sprechen die Außenminister Russlands und der USA über die Normalisierung ihrer Beziehungen einschließlich „der Aufhebung einseitiger Hindernisse, die von der vorherigen US-Regierung geerbt wurden und eine für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit in den Bereichen Handel, Wirtschaft und Investitionen behindern.“
Jetzt wird Europa – wie ein Twen, der sich immer noch nicht zum Auszug aus dem bequemen Elternhaus entschlossen hat – von seinen „Eltern“ unsanft ins feindliche Leben hinaus bugsiert. Das ist unfair, unangenehm und anstrengend. Aber eben auch eine Riesenchance. Europa könnte z.B. den Vorschlag des chinesischen Außenministers Wang Yi, aufgreifen, der in seiner Rede in München vorschlug, die chinesische Belt-and-Road-Initiative mit der der Global-Gateway-Strategie der Europäischen Union zu verknüpfen. Wie Bertrand schreibt:
„Am Ende könnte ein Europa stehen, das zum ersten Mal seit 1945 von der amerikanischen Vormundschaft befreit ist und ein neues multipolares Gleichgewicht mit China und Russland herstellt – und Trumps Versuch, Europa auszugrenzen, zum Katalysator macht, der Europa endlich strategische Autonomie ermöglicht.
Dies würde jedoch ein Maß an strategischem Denken erfordern, zu dem sich die derzeitigen europäischen Politiker durchweg als unfähig erwiesen haben. Stattdessen fürchte ich, dass sie ihren derzeitigen Weg fortsetzen werden, indem sie versuchen die Fassade der transatlantischen Einheit aufrechtzuerhalten, selbst wenn sie offen gedemütigt werden.“
as sagt:
Vor allem sollten sich die Europäer massiv an der Industrialisierung Afrikas beteiligen, gemeinsam mit den Chinesen, anstatt aufzurüsten. Das wäre wirklich eine Investition für unsere langfristige Sicherheit. Die Bevölkerung in Afrika wächst massiv, und wenn in einigen Jahrzehnten die Klimakatastrophe in Afrika wirklich zuschlagen sollte, dann könnte es zu wahren Völkerwanderungen kommen. Je schneller in Afrika die Infrastruktur entwickelt wird, um so eher verlangsamt sich dort das Bevölkerungswachstum und verbessert sich die Nahrungsmittelversorgung. Schon heute werden dort mehr als genügend Lebensmittel produziert, aber mangels Verkehrsinfrastruktur ist der innerafrikanische Handel äußerst beschränkt. Im übrigen könnten wir von der Zusammenarbeit mit den Chinesen viel lernen, so wie die Chinesen in der Vergangenheit viel gelernt haben von den industriellen Gemeinschaftsunternehmen mit westlichen Firmen.