Mal was ganz anderes:
Diese Beschreibung einer U-Bahn-Fahrt von Agatha Christie, die ich hoffentlich einigermaßen lesbar übersetzt habe, erschien 1947. Ersetzt man die Stricknadeln durch Handys, könnte sie aktueller nicht sein. Eigentlich traurig, dass der öffentliche Personennahverkehr in 74 Jahren nicht komfortabler geworden ist!
Hercule Poirot, der in der U-Bahn hin und her schaukelte und dabei mal gegen den einen Körper, mal gegen einen anderen geworfen wurde, dachte bei sich, dass es zu viele Menschen auf der Welt gab; mit Sicherheit gab es zu viele an diesem Ort, der unterirdischen Welt Londons und zu diesem Zeitpunkt, 18.30 am Abend. Hitze, Lärm, Gedränge, der unwillkommene Druck auf Hände, Arme, Körper und Schultern, die von Fremden eingepfercht und herumgedrückt wurden. Und im Großen und Ganzen, so dachte er mit Widerwillen, handelte es sich um einen einfachen und uninteressanten Haufen von Fremden. Überhaupt war die Menschheit in der Masse nicht attraktiv.
Wie selten sah man ein Gesicht, das vor Intelligenz funkelte, wie selten eine femme bien mise …
Was war das für eine Leidenschaft, die die Frauen dazu verleitete, unter den ungünstigsten Bedingungen zu stricken? Eine Frau sah beim Stricken nicht gut aus: die Versunkenheit, die glasigen Augen, die rastlos beschäftigten Finger … Man brauchte die Gewandtheit einer Wildkatze und die Willenskraft eines Napoleons, um in einer überfüllten U-Bahn stricken zu können; aber die Frauen schafften es, vorausgesetzt es gelang ihnen, einen Sitzplatz zu ergattern. Klick klick machten die Nadeln. Heraus kam ein erbärmlicher kleiner Streifen Krabbenrosa. Keine Eleganz, dachte Poirot, keine weibliche Anmut. Seine alternde Seele rebellierte gegen den Stress und die Eile der modernen Welt. All diese jungen Frauen, die ihn umgaben, waren so gleich, so ohne Charme, so ohne reiche, verführerische Weiblichkeit. Er sehnte sich nach extravaganterer Attraktivität. Ah, endlich wieder eine femme du monde zu erblicken, schick, sympathisch, spirituell, eine Frau mit üppigen Kurven, ein wenig verrückt und extravagant gekleidet! Früher hatte es solche Frauen gegeben, aber heute …
Die U-Bahn hielt an einem Bahnhof. Die Leute stiegen aus und drängten Poirot zurück in die Spitzen der Stricknadeln, stiegen ein und drängten ihn noch enger an seine Mitreisenden. Mit einem Ruck setzte sich der Zug wieder in Bewegung, Poirot wurde gegen eine stämmige Frau mit knubbeligen Paketen geschleudert, sagte „Pardon“, prallte gegen einen langen, kantigen Mann, dessen Aktenkoffer ihn am Hinterkopf erwischte, und sagte wieder „Pardon“. Er spürte, wie seine Schnurrbärte schlaff und glatt wurden. Quel enfer!
Zum Glück konnte er an der nächsten Station aussteigen! Es war auch die Station, an der gefühlt weitere 150 Leuten den Zug verließen, denn es handelte sich um Picadilly Circus. Wie eine große Flutwelle strömten sie auf den Bahnsteig. Jetzt war Poirot wieder fest eingeklemmt, diesmal auf einer Rolltreppe, die ihn nach oben an die Erdoberfläche beförderte, ein Aufstieg, dachte Poirot, aus höllischen Regionen. Wie ungemein schmerzhaft war doch ein Koffer, der einem auf einer aufsteigenden Rolltreppe von hinten in die Knie gerammt wurde!
In diesem Moment rief eine Stimme seinen Namen. Erschrocken hob er den Blick auf die gegenüberliegende Rolltreppe, die nach unten führte. Seine ungläubigen Augen sahen eine Vision aus der Vergangenheit: eine Frau von voller und extravaganter Gestalt, das üppige hennarote Haar gekrönt von einem kleinen Plastron aus Stroh, an dem eine ganze Schar glänzend gefiederter kleiner Vögel befestigt war. Exotisch anmutende Pelze tropften von ihren Schultern, ihr purpurroter Mund war weit geöffnet, ihre reiche, fremdländische Stimme hallte durch den Schacht. Sie hatte eine gute Lunge. „Das ist…“, schrie sie, „aber das ist ja Monsieur Hercule Poirot! Wir müssen uns wiedersehen, ich bestehe darauf!“ Aber das Schicksal selbst kann nicht unerbittlicher sein als das Verhalten zweier Rolltreppen, die sich in entgegengesetzter Richtung bewegen. Stetig, unerbittlich wurde Hercule Poirot nach oben und die Gräfin Vera Rosov nach unten getragen. Sich seitwärts drehend und über die Ballustrade gelehnt, rief Poirot verzweifelt: „Cher Madame, wo kann ich Sie finden?“ Ihre Antwort drang leise aus der Tiefe zu ihm herauf. Sie war unerwartet, schien aber in diesem Moment seltsam passend: „In der Hölle!“
us sagt:
Wer wissen will, warum das so ist, findet in diesem Artikel eine Erklärung:
Schweizer Bahn schlägt Deutsche Bahn
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