Mehr Sicherheit durch die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Wiesbaden?

Der Artikel als pdf-Datei.

Der völkerechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Sicherheitslage in Europa erheblich verschlechtert, argumentiert die Bundesregierung. Das im Juli mit den USA geschlossene Abkommen Deutschlands zur Stationierung von landgestützten Raketen mit strategischen Reichweiten werde unsere Sicherheit verbessern. Es diene zur Abschreckung Russlands von einem Angriff auf Natomitglieder und trage so zur Verhinderung weiterer Kriege auf europäischem Boden bei. Oberst a.D. Wolfgang Richter widerspricht.

Geplant ist die temporäre und später dauerhafte Stationierung einer von fünf Multi-Domain-Task-Forces (MDTFs) in Deutschland. Diese Task Forces sind bewegliche Truppenverbände zur regionalen Kriegführung, die eine integrierte militärische Reaktion auf die unterschiedlichsten Bedrohungsszenarien erlauben. Schon 2017 begannen die USA mit dem Aufbau dieser Verbände, von denen zwei im indo-pazifischen Raum stationiert werden sollten, einer für die Arktis, einer für den Verbleib in den USA (und damit zur flexiblen Verwendung) und der fünfte, der nun nach Wiesbaden kommen soll, für Europa / Afrika vorgesehen war. Die Verbände sind mit verschiedenen landgestützten Raketensystemen ausgerüstet, die mit konventionellen Sprengköpfen ausgestattet werden (theoretisch könnten auch nukleare Sprengköpfe verwendet werden, was aber aktuell ausgeschlossen wurde.): Die sich noch im Entwicklungsstadium befindenden Dark Eagles sind Hyperschallraketen mit der – strategischen – Reichweite von bis zu 2.800 km. Die Tomahawk Marschflugkörper haben die – operative – Reichweite von 1700 – 2.500 km. Deren Abschussbatterien können auch SM-6-Luftabwehrraketen starten, die jedoch bei einer Reichweite von 370 – 460 km auch für Angriffe genutzt werden können. Schließlich gehören noch die HIMARs dazu, die die – taktischen – Reichweiten von 165 – 300 km abdecken, und häufig mit Cluster-Munition bestückt werden. Ein MDTF-Verband kann ohne Nachladen 40-48 Raketen gleichzeitig abschießen.

Die Stationierung solcher Raketen in Europa war bis 2019 nicht möglich, da das INF-Abkommen zwischen den USA und der UdSSR/Russland von 1987 über die Vernichtung aller boden-/landgestützten Nuklearraketen mit mittlerer und kürzerer Reichweite (zwischen 500 und 5500 Kilometer) das verbot. Präsident Trump kündigte das Abkommen im Februar 2019, einen Tag später folgte Russland, sodass das Abkommen im August 2019 auslief.

Wie Oberst a.D. Wolfgang Richter berichtet, hatte die Kündigung dieses Vertrages weniger mit der Sicherheitslage in Europa zu tun als mit den US-Interessen in Bezug auf die Eindämmung Chinas. Zwar warfen sich die USA und Russland gegenseitig Verletzungen des INF-Abkommens vor, was die Gegenseite jeweils bestritt. Dieser Konflikt hätte aber bei entsprechendem politischen Willen durch wechselseitige Kontrollbesuche und genauere Absprachen gelöst werden können. Die USA wollten aber zur Abwehr chinesischer Mittelstreckenraketen ihre eigenen Systeme im indopazifischen Raum stationieren. Das China dem INF-Abkommen beitreten würde, erschien ausgeschlossen, weil es sich nur auf landgestützte Raketen bezog, und China dann schutzlos den seegestützten amerikanischen Raketen gegenüber gestanden hätte. So sei aus Sicht der USA nur die Kündigungsoption geblieben. Nach dem Auslaufen des INF-Vertrags schlug Russland ein Moratorium zur Stationierung von landgestützten Mittelstreckenraketen in Europa vor, das von beiden Seiten de-facto eingehalten wurde. Zudem: Auch wenn die USA die Vorschläge Russlands zu einer europäischen Sicherheitsordnung vom Dezember 2021 insgesamt ablehnten, so zeigten sie sich doch in Bezug auf Verhandlungen zu einer Wiederauflage des INF-Vertrages gesprächsbereit. Das alles ist nun mit der Vereinbarung zwischen Deutschland und den USA vom Juli 2024 vom Tisch. Und damit auch einer der Gründe dafür, warum Oberst a.D. Wolfgang Richter die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland für einen schweren sicherheitspolitischen Fehler hält und dies in einem ausführlichen Papier (das der Redaktion vorliegt) begründet.

Die Bundesregierung habe die tatsächliche Bedrohungssituation in Europa nicht angemessen analysiert und die „Fähigkeitslücke“, die durch die Raketenstationierung geschlossen werden solle, nur sehr vage definiert. Es gälte Angriffe auf Deutschland von einem sicheren Hinterland aus zu verhindern, argumentiert Scholz. Tatsächlich verfügt Russland, erläutert Richter, über große Raketen-Kapazitäten, die sowohl mit konventionellen als auch nuklearen Sprengkörpern bestückt werden können. Mit den flugzeuggestützen Kinzhals hat Russland bereits einsatzfähige Hyperschall-Marschflugkörper mit einer Reichweite von 300-4.500 km; die seegestützten Kalibr und Zircons haben Reichweiten von 2.500 bzw. 1000-1.500 km; hinzu kommen die landgestützten Iskander-Raketen mit einer Reichweite von 500 km und mehr. Bloße Zahlenvergleiche reichen aber laut Richter zur Einschätzung der Bedrohungslage nicht aus. Generell seien die Nato-Streitkräfte den russischen quantitativ und qualitativ überlegen. Da uns andere Waffensysteme (die er im Papier benennt) zur Verteidigung gegen Russland zur Verfügung stehen, insbesondere auch Flugzeuge wie z.B. die Tornados, gäbe es keine „Fähigkeitslücke“, und die Installation zusätzlicher landgestützter Raketen sei unnötig.

Im Gegenteil: Deren Stationierung, argumentiert der Oberst a.D., erhöht erheblich die sicherheitspolitischen Risiken Deutschlands, Europas und der Welt, Risiken, die sich nicht mit dem völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg rechtfertigen ließen.

  • Bisher konnte die Nato Angriffsziele bis zu 1.500 km innerhalb Russlands erreichen. Die dazu nötigen nicht zu verheimlichenden Vorbereitungen sorgten jedoch dafür, dass eine ausreichend lange Vorwarnzeit zur Vorbereitung von Abwehrmaßnahmen gegeben war. Das ändert sich mit den neuen Hyperschallwaffen, die weitaus tiefer ins Landesinnere Russlands eindringen können. Gleichzeitig verkürzt sich durch die neue Technik die Vorwarnzeit auf fünf Minuten. Damit ist aber die große Gefahr von Fehlwahrnehmungen der tatsächlichen Bedrohungslage und Kurzschlussreaktionen verbunden.

  • Zum ersten Mal seit 1988 wird Russland nun durch die USA bis tief ins Landesinnere bedroht, jedoch von Deutschland aus. Dadurch ändert sich entscheidend das strategische Gleichgewicht zwischen den USA und Russland. Es ist jedoch Deutschland, das zum primären Ziel eines russischen Gegenangriffs wird und nicht die USA. (Tatsächlich hat Moskau gerade die nukleare Doktrin verändert: Von nun an behält man sich vor, in einer akuten Bedrohungslage auch Verbündete eines Gegners und nicht nur den Gegner selbst direkt anzugreifen.)

  • Diese Stationierung, so Richter, kann aus der Sicht Russlands nicht als Defensivmaßnahme gewertet werden, sondern als Vorbereitung auf einen Überraschungskrieg oder ein Eingreifen der Nato in der Ukraine, zumal Enthauptungsschläge Teil der amerikanischen Militärdoktrin sind. Russland und China haben z.B. in ihrem 2022 geschlossenen Abkommen ausdrücklich auf diese Art der Bedrohung hingewiesen. Es ist also zu erwarten, dass Russland mit der Stationierung weiterer Raketen reagieren wird, und so eine Eskalationsspirale in Europa in Gang gesetzt wird.

  • Diese Situation hat weitere gravierende Folgen: Das letzte noch existierende Abkommen zur Eindämmung des nuklearen Rüstungswettlaufs ist der im Jahr 2026 auslaufende New-Start-Vertrag zwischen den USA und Russland. Bisher bestand die Hoffnung, dass die bisher informellen Gespräche über eine Vertragsverlängerung bald in formelle Verhandlungen münden könnten. Während jedoch aus russischer Perspektive mit der Stationierung der Mittelstreckenraketen in Deutschland und mit der Lieferung von entsprechenden Raketensystemen an die Ukraine ein „Kuba-Moment“ erreicht ist, eine nicht zu tolerierende Bedrohung direkt vor der Haustür, möchten die Amerikaner genau darüber nicht verhandeln und auch weiterhin die Ukraine im Krieg gegen Russland militärisch unterstützen. Das bedeute, dass Russland, dessen Sicherheitsinteresse schon lange darauf gerichtet sei, die NATO auf Abstand zu halten und eine Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenwaffen in seiner geographischen Nähe zu verhindern, einen sehr viel stärkeren Anreiz zur Fortsetzung des Ukraine-Kriegs bekäme, so Richter.

Viel schwerwiegender wäre jedoch das (aufgrund dieser Interessenunterschiede sehr wahrscheinliche) Scheitern der Verhandlungen über einen neuen New-Start-Vertrag: dann befänden wir uns erstmals seit den 1960er Jahren in einer Welt ohne nukleare Rüstungskontrollen. Und damit öffneten sich die Schleusen für einen unkontrollierten Stationierungswettlauf. In dieser instabilen Lage geriete die ganzen Welt noch stärker als heute an den Rand eines Atomkriegs.

  • Gerade wegen der Gefahr des Scheiterns aller Rüstungskontrollverhandlungen kritisiert Richter, dass, im Gegensatz zum Nato-Doppelbeschluss der 1980er, das Stationierungsabkommen der Raketen in Deutschland nicht mit einem Verhandlungsangebot an Moskau gekoppelt ist. Diplomatie sei nicht vorgesehen.

  • Das fehlende Gespräch über diese Pläne moniert Richter jedoch nicht nur in Bezug auf den Gegner Russland. Die Stationierung der Raketen sei auch nicht mit den Nato-Verbündeten abgesprochen. Während beim Nato-Doppelbeschluss die Risiken auf verschiedene Partner verteilt wurden, und nicht nur Deutschland Raketen stationierte, trägt unser Land heute das alleinige Risiko. Allerdings könnte auch das gravierende Folgen für die Bündnispartner haben, die aber, wie gesagt, nicht konsultiert worden seien.

Während im Abkommen mit den USA außerdem davon die Rede ist, dass die temporäre Stationierung in eine dauerhafte übergehen solle, verweist die Bundesregierung auf ihre mit einigen europäischen Staaten unterzeichnete Absichtserklärung zur Entwicklung eigener Raketensysteme, die nach einigen Jahren die amerikanischen ersetzen sollen. Dieser Widerspruch stehe im Raum.

Unklar sei auch, wer denn am Ende über den Einsatz der Raketen entscheide: nur die USA, würde Deutschland ein Mitspracherecht eingeräumt, oder würden gar alle Nato-Verbündeten gehört?

  • Zu guter Letzt kritisiert Wolfgang Richter das Verfahren der Bundesregierung, das Abkommen lediglich durch einen Exekutivbeschluss durchzusetzen. Er schreibt:

„Dass eine Entscheidung von solcher Tragweite für die Sicherheit Deutschlands als exekutiver Akt mitgeteilt wird, ohne sie im Vorfeld im Deutschen Bundestag und in der deutschen Öffentlichkeit ausführlich zu diskutieren, ist ebenfalls befremdlich. Denn sie erschließt sich nicht aus der Nationalen Sicherheitsstrategie von 2022. Die Verschärfung der Konfrontation in Europa und die Erhöhung des atomaren Risikos Deutschlands verlangen eine breite und inklusive nationale Diskussion.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Du kannst diese HTML-Tags und -Attribute verwenden:

<a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>