Liebesgrüße an Moskau

Sanktionen: Liebesgrüße an Moskau

James K. Galbraith ist Inhaber des „Lloyd M. Bentsen Jr. Lehrstuhls“ für Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft an der Lyndon B. Johnson School of Public Affairs und einer Professur für Staatswissenschaften an der University of Texas in Austin. In den frühen 1980er Jahren war er geschäftsführender Direktor des Gemeinsamen Wirtschaftsausschusses des US-Kongresses und davor als Ökonom im Bankenausschuss des Repräsentantenhauses. Von 1996 bis 2016 war er Vorsitzender des Vorstands von „Economists for Peace and Security“ und leitet heute das „University of Texas Inequality Project“. Er ist geschäftsführender Herausgeber von „Structural Change and Economic Dynamics“.

Welche Auswirkungen haben die Sanktionen auf die russische Wirtschaft? Mit dieser Fragestellung befasst sich eine Studie des Professors, deren Ergebnis er nun in einem Video des „Institute for New Economic Thinking“ zusammenfasste. Sein Fazit: Dem Land hätte in Bezug auf seine wirtschaftliche Entwicklung nichts Besseres passieren können. Hier eine Zusammenfassung.

Die wichtigsten erklärten Sanktionsziele waren a) die starke Reduzierung von Russlands Exporteinnahmen, um den Land die Finanzmittel zur Kriegführung zu entziehen, b) die Verhinderung seines Zugangs zu kritischen Militär-Technologien und c) Erzeugung von Druck der Zivilbevölkerung und Oligarchen auf das politische Regime. Wie deren von Anfang 2022 bis in die erste Hälfte des Jahres 2023 hinein geäußerten Erwartungen zeigen, glaubten die Sanktionsbefürworter, die Sanktionen würden die russische Wirtschaft zerstören oder in die dauerhafte Bedeutungslosigkeit verbannen.

Waren diese Erwartungen realistisch, und haben sie sich bewahrheitet?

Besonders der führende Sanktions-Befürworter, Yale-Professor Sonnenfeld und sein Team, waren fest davon überzeugt, dass die Sanktionen das russische Kriegsführungspotential effektiv zerstören würden. Schon Anfang 2023 war Galbraight hingegen zu dem Schluss gekommen, dass das nicht der Fall war. Aber warum? Waren die Fakten selbst oder die Interpretation und Analyse dieser Fakten falsch?

Es gab tatsächlich einen Rückgang der russischen Öl- und Gasexporte sowie anderer Rohstoffe, insbesondere Mineralien, in die westlichen Märkte. Aber das wirkte sich nicht auf die Kaufkraft des Landes auf den Weltmärkten aus. Denn Russland verkaufte zwar weniger Öl und Gas aber das Wenige zu höheren Preisen. So stiegen die Exporteinnahmen des Landes sogar.

Außerdem konnte Russland aufgrund der Importbeschränkungen nun nur noch weniger Geld im Ausland ausgeben als zuvor, zum Beispiel für Konsumgüter. Und so wuchs der russische Leistungsbilanzüberschuss, anstatt zu fallen. Unter der Voraussetzung, dass Devisen für die russischen Kriegsanstrengungen überhaupt von entscheidender Bedeutung waren, bewirkten die Sanktionen also das Gegenteil dessen von dem, was man erreichten wollte, und verbesserten die russische Devisensituation. Vieles spricht jedoch dafür, dass Russlands Zugang zu Dollar oder Euro unerheblich für die russische Kriegführung war, die fast vollständig mit eigenen Mitteln finanziert wurde.

Die Sanktionsbefürworter glaubten, dass die russische Rüstungsindustrie auf den Import wichtiger Fertigungskomponenten, Ausrüstung, Maschinen und dergleichen, insbesondere von Halbleitern angewiesen war. Die Russen waren sich jedoch des Kriegsrisikos schon seit geraumer Zeit bewusst, und so war in Wirklichkeit zu erwarten, dass sie durch umsichtige Planung für die entsprechende Bevorratung gesorgt hatten. Ob und in welchem Umfang die russische Rüstungsindustrie überhaupt auf westliche Importe angewiesen war, ist unklar. Für den zivilen Bereich sah die Lage anders aus.

So litt die russische Produktion tatsächlich stark unter den Sanktionen und die Produktionsindizes für viele Güter fielen im 2022 sehr stark ab. Was aber geschah dann? Die Kapazitäten zur Herstellung dieser wichtigen Produkte waren ja nicht verschwunden. Die Fabriken waren da, die Arbeiter waren da, ihre Manager waren da, die Technik war da. Sie mussten also nur einiges an Designs und Equipment ersetzen, was ihnen gelang, teilweise mit chinesischer Unterstützung. Man stellte also lediglich japanische oder europäische Produktionslinien unter Verwendung chinesischer Designs auf russische um und nahm sie wieder in Betrieb. Es ist nur eine Frage der Zeit bis sie das alte Produktionsniveau wieder erreicht ist.

Der Effekt der Sanktionen war also, dass sich die Industrie von einer westlich orientierten zu einer nicht mehr westlich orientierten gewandelt hat. Und das gilt sowohl für Gebrauchsgüter wie Autos, und Waschmaschinen als auch für Verbrauchsgüter, Geflügel, Käse, Getreide, Obst und Gemüse, alles Dinge, die Russland vorher aus Europa oder der Türkei importierte. In den letzten acht Jahren und vor allem im vergangenen Jahr wurden große Teile der Produktion in die Russische Föderation (zurück-)verlagert. So wurden die Sanktionen als Chance genutzt.

Noch bis zum Jahr 2022 war die russische Wirtschaft – von der Automobilbranche über die Luftfahrt bis hin zu Fast-Food-Restaurants und großen Kaufhäusern – sehr stark von westlichen Unternehmen geprägt. Als die westlichen Firmen Russland verließen, mussten sie ihre Kapitalausstattung, ihre Fabriken usw. an russische Unternehmen verkaufen, die das mit für russische Verhältnisse günstigen Krediten russischer oder mithilfe anderer Geldquellen finanzierten. Auf diese Weise ging ein großer Teil des Kapitalvermögens aus westlicher in russische Hand über.

Das Ergebnis ist eine dynamische Wirtschaft, die im Vergleich zu Europa den Vorteil relativ niedriger Rohstoffkosten hat; denn Russland ist ein großer Erzeuger von Rohstoffen, Öl und Gas, Düngemitteln und Nahrungsmitteln. Während also z.B. die Deutschen doppelt so viel für Energie zahlen wie vorher, zahlen die Russen nicht mehr, sondern vielleicht sogar weniger dafür als vor dem Krieg. Auch in dieser Hinsicht erwiesen sich die Sanktionen also – im Gegensatz zu den damit verbundenen Erwartungen als Geschenk für die russische Wirtschaft.

Interessant ist, dass die russische Seite die möglichen Sanktionsfolgen ähnlich einschätzte wie die westliche. Ein Bericht der „Russischen Akademie der Wissenschaften“ veröffentlichte im September 2023 einen Bericht, nach dem die Sanktionen in allen Bereichen der russischen Wirtschaft eine schwere Krise auslösten. Man befürchtet aber keinen Zusammenbruch der Wirtschaft, sondern einen erfolgreichen Anpassungsprozess, wie unter marktwirtschaftlichen Bedingungen, mit fähigen Unternehmen, die die durch die Sanktionen geschaffenen Lücken ausfüllen können, nicht anders zu erwarten.

Ohne die Sanktionen hätte es keine dieser Entwicklungen gegeben. Der Krieg wäre nicht anders verlaufen als jetzt. Aber die russische Regierung war im Jahr 2022 weder bereit noch in der Lage, den Rückzug westlicher Firmen aus dem Lande zu erzwingen. Sie konnte ebenfalls nicht ihre Oligarchen dazu zwingen, sich zwischen Russland und dem Westen zu entscheiden, und hatte das auch nicht vor. Diese Entscheidungen wurden ihr vom Westen aufgezwungen, und das wirkte sich in vielerlei Hinsicht äußerst günstig auf die langfristige unabhängige wirtschaftliche Entwicklung der Wirtschaft aus.

Die Russland-Sanktionen hatten mit großer Wahrscheinlichkeit von vorne herein keinerlei Aussicht auf den gewünschten Erfolg. Denn es ist ein großer Unterschied, ob man eine Inselwirtschaft wie Kuba, die seit vielen Jahrzehnten enorm unter den Sanktionen zu leiden hat, eine reine Rohstoffwirtschaft wie Venezuela, dessen Volkswirtschaft sehr unter den umfangreichen Sanktionen der Vereinigten Staaten und den damit verbundenen Sekundärsanktionen zu leiden hat, oder ein Land wie Russland sanktioniert. Russland bedeckt ein Sechstel der Landmasse der Welt. Es verfügt über 20 bis 30 % der Weltressourcen. Es hat 145 Millionen Einwohner. Es verfügt über hohe Kompetenzen in Wissenschaft, Technik und Ingenieurwesen. Nach dem Chaos der 1990er Jahre entwickelte man ein einigermaßen effektives Verhältnis zwischen Staat, halbstaatlichem Sektor, großen Unternehmen wie GASPRO und dem privaten Sektor. Deswegen konnte das Land sich nun auf die Sanktionen einstellen.

Und natürlich hat es auch Handelspartner, von denen sich viele den Sanktionen nicht anschlossen. Der wichtigste Partner ist natürlich China, aber auch die großen lateinamerikanischen Länder, Brasilien und Mexiko, die afrikanischen Länder und die BRICS-Staaten gehören dazu. Russland ist also keineswegs isoliert.

So finden wir uns also heute in einer Situation wieder, in der ein Sektor der Weltwirtschaft, insbesondere Westeuropa, Sanktionen verhängte und sich damit von dringend benötigten Ressourcen abschnitt. Im Gegenzug musste Russland auf viele Dinge verzichten, deren Fehlen es jedoch verschmerzen und in der Folgezeit kompensieren konnte. Und dieser im Jahre 2014 begonnene Prozess hat sich im Verlauf der zwei vergangenen Jahre stark beschleunigt.

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