Imperialismus, Kapitalismus, Sozialismus und der ganze Rest

Zum ersten Mal hatte ich die Gelegenheit dazu, meine Thesen in einem größeren Kreis zu diskutieren. Das war eine sehr interessante und anregende Erfahrung. Ich erhielt anfangs fast durchweg positives Feedback.

In der vertiefenden Diskussion wurden aber sehr schnell unterschiedliche Sichtweisen deutlich. Deswegen habe ich nun versucht zusammenzufassen, worin sich meine Position eigentlich von anderen anti-kapitalistischen Einschätzungen unterscheidet. Wenn ich diese richtig wiedergegeben habe, gibt es da doch enorme Differenzen, wie die unten folgende Tabelle zeigt.

Dabei würde mich vor allem sehr interessieren, welche Alternativen zum Organisationssystem Nationalstaat und zu einer sozial-ökologischen Transformation in nationalen Rahmen es aus links-anti-kapitalistischer Sicht gibt.

Die grundsätzlich positive Aufnahme meiner Gedanken führe ich darauf zurück, dass sich aus meinem Ansatz eine sehr viel praktischere und weniger depressive Handlungsperspektive ergibt als aus den gängigen linken Analysen, die einen zudem immer wieder in das Bündnis mit dem keineswegs wohlwollenden Hegemon treiben.

Meine Suche nach Alternativen begann ja gerade, weil ich zunehmend eine Diskrepanz zwischen der beobachteten Realität und den Einschätzungen und politischen Haltungen des „linken Spektrums“ wahrnahm, und ich mich dort überhaupt nicht mehr aufgehoben fühlte.

Bei den heterodoxen Ökonomen, von denen die meisten nicht in erster Linie den Sozialismus, sondern eine ausgewogene erfolgreiche Volkswirtschaft im Sinn haben, bei Michael Hudson, für den eine solche Volkswirtschaft sozialistisch ist bzw. sein muss, bei geopolitischen Analysten, die sich nicht eindeutig traditionell rechts oder links einordnen lassen, beim Vergleich der Verlautbarungen der unterschiedlichen weltpolitischen Akteure, der konkreten Beschäftigung mit der Tagespolitik und deren  Vorgeschichte, bei marxistischen Ökologen u.v.m. wurde ich fündig und entdeckte eine für mich ganz neue Welt. Aber nun zum Positionenvergleich:

These linkes Spektrum“ Ulrike et al.
These 1:

Die neoliberale Globalisierung ist ein politisch-imperiales Projekt der USA

Der US-Hegemon hat für die weltweite Ausbreitung und Reifung des Kapitalismus gesorgt. Seine Bedeutung ist weltweit gesunken. Wir befinden uns heute in einer tiefen Krise des Kapitalismus und der Zivilisation, in der es fraglich ist, ob ersterer sich noch einmal neu erfinden kann. Dafür gibt es nur eine progressive Lösung: den Sozialismus Das US-Imperium ist weit mehr als eine Wirtschaftsordnung. Es ist ein komplexes politisches, militärisches, ideologisches und wirtschaftliches System in der Tradition des Kolonialismus. Die US-Hegemonie durchdringt weltweit alle Bereiche des Lebens. Und die Zurückdrängung dieses Einflusses findet an vielen Fronten statt. Die heutige Krise ist keine allgemeine Krise des Kapitalismus, der in vielen Teilen der Welt immer noch gut gedeiht, sondern die des Hegemons – in Verbindung mit der Zivilisationskrise und vielen anderen Widersprüchen, die alle ohne die Absetzung des Hegemons nicht lösbar sind.
These 2:

Die Kernfrage der „Systemausein-andersetzung“ ist die Behauptung nationaler Souveränität

Anstelle einer progressiven weltweiten sozialistischen Bewegung haben sich – bedauerlicherweise – reaktionäre, autoritäre, kapitalistische Regimes herausgebildet, die den Hegemon stürzen wollen. Nationalstaaten sind grundsätzlich Instrumente der herrschenden Klassen. Das Gerede von der nationalen – strategischen – Souveränität ist demagogischer, sich an den Rechtspopulismus anbiedernder Unsinn, der nur mühselig die Interessen autoritärer Regimes verbrämt. Diese sind lediglich darauf aus, selbst mehr vom Kuchen abzubekommen. Die vermeintliche System-auseinandersetzung ist ein Kampf zwischen verschiedenen internationalen Kapitalfraktionen, die ihre Macht auf ihre jeweilige Nation stützen.

Der Ukraine-Krieg ist ein Beispiel dafür, wie eine kapitalistische Oligarchie unter Ausnutzung nationaler Sentimentalitäten einen imperialistischen Krieg anzettelte und damit versucht, ihre wackelige Klassenherrschaft im eigenen Land zu festigen.

Der Nationalstaat ist nicht per se „gut“ oder „schlecht“, sondern ein Grundorganisationsprinzip der heutigen menschlichen Gesellschaften und des Völkerrechts. Auch unter Klassenbedingungen gibt es nationale Interessen, die mehr oder weniger alle Bürger betreffen. In einem Klassenstaat lebt es sich grundsätzlich besser als in gar keinem Staat.

Die Behauptung nationaler Souveränität ist die einzig denkbare Antwort auf einen übergriffigen Hegemon.

Der Nationalstaat ist der Rahmen, in dem inner-gesellschaftliche Konflikte demokratisch gelöst, Klassenwidersprüche ausgetragen und eine sozialistische Ökonomie etabliert werden. Das funktioniert am besten ohne Einmischung von außen und ist ein jeweils kultur-spezifischer Prozess. Allgemeingültige Demokratie- oder Kulturmodelle gibt es nicht.

Aber ein Nationalstaat kann tyrannisch im Inneren sein und imperialistischen Interessen dienen, wie gegenwärtige und historische Erfahrungen zur Genüge zeigen.

Empirisch zu untersuchen wäre, ob Russland und China z.B. wirklich solche autoritären extraktiv-imperialistischen Staaten sind, oder ob sie ihre militärischen Kapazitäten eher in Reaktion auf die Provokationen des Westens auf- und ausbauen.

Und der Ukraine-Krieg? Insofern der Westen den Krieg mit provoziert hat, handelt es sich um den Stellvertreter-Krieg eines Hegemonen mit einem regionalen imperialistischen Konkurrenten. In dieser Auseinandersetzung sind beide Seiten gleichermaßen zu verurteilen. Russland hat jedoch die Ukraine aus imperialistischen Motiven angegriffen. Das ist schärfstens zu verurteilen, und die Ukraine als Angriffs-Opfer ist zu verteidigen.

Die Meinungen sind geteilt, wie viel kriegerische und wie viele Verhandlungsanteile da angemessen sind. Die Einschätzung hängt davon ab, für wie gefährlich Russland militärisch eingeschätzt wird und welche Opfer in einem solchen Krieg moralisch noch zu rechtfertigen sind.

Da ein Sieg Russlands die Rechtspopulisten hierzulande stärken könnte, ist dieser auch im linken Eigeninteresse zu verhindern. Es gilt in jedem Fall, die Schwächung der in Russland herrschenden Oligarchie voranzutreiben, damit dort ein der sozialistischen Revolution förderlicher Regime Change stattfinden kann.

Ein vom Hegemonen provozierter Krieg. Der russische Angriff erfolgte nicht aus imperialistischen Motiven, sondern aus der Wahrnehmung der Notwendigkeit der Selbstverteidigung (in dieser Situation sah Russland – vielleicht fälschlicherweise – den Angriff als beste Verteidigungsstrategie an).

Das überfallene Land wird so von beiden Seiten dazu benutzt (und lässt sich dazu benutzen), den geopolitischen Konflikt zwischen Hegemonieanspruch des Westens und nationaler Souveränität Russlands auszutragen. Das ist, besonders für die Ukraine tragisch, deren Existenz als Staat, Gesellschaft und Volkswirtschaft dabei zerstört wird. Die einzig sinnvolle Lösung ist ein Waffenstillstand und die Schaffung einer Sicherheitsordnung, die Russland als wichtige Macht respektiert und seine Souveränität gewährleistet. Was dort innenpolitisch geschieht, geht uns nichts an.

These 3:

Die Zukunft der Weltordnung ist multipolar

Diese neue Weltordnung ist in jeder Hinsicht ein Rückschritt: auf dem Weg zum Sozialismus, politisch und kulturell. Die Welt fällt zurück in die imperialistischen Konkurrenzzeiten vor dem 1. Weltkrieg. Das „autoritäre Pack“ verträgt sich jetzt, weil alle das gemeinsame Interesse haben, den Hegemon zu stürzen. Sobald der beseitigt ist, wird das Hauen und Stechen zwischen den verschiedenen Staaten mit kapitalistischer Wirtschaftsordnung los gehen. Da der Kapitalismus eine Wirtschaftsform ist, die auf weltweiter Konkurrenz und Ausbeutung beruht, ist zwischen kapitalistischen Staaten eine partnerschaftliche internationale Zusammenarbeit auf Augenhöhe so gut wie unmöglich.

Sozialisten halten Abstand zu all den autoritären Regimes und neuen internationalen Organisationen, interessieren sich für die bestmögliche Verhinderung imperialistischer Kriege und beobachten und unterstützen die Klassenkämpfe in den jeweiligen Ländern.

Diese Weltordnung ist nach 500 Jahren Kolonialgeschichte die Chance, weltweit, unter Rückbesinnung auf die jeweils eigenen zivilisatorischen Traditionen, eigene Modernisierungsmodelle in den jeweiligen Staaten und eine fairere Form des internationalen Zusammenlebens zu etablieren.

Diese Entwicklung ist grundsätzlich zu begrüßen und mitzugestalten, damit aus der Chance Realität wird. Das ist keineswegs gewährleistet.

Es erscheint aber prinzipiell möglich zu sein, über Handelsbeziehungen im wechselseitigen Interesse und Diplomatie zu einer relativ friedlichen internationalen Machtbalance zu kommen, insofern diese nicht immer wieder durch einen mächtigen bad actor gestört wird.

Auch für breite Teile der Gesellschaften der traditionellen Industrie- bzw. Kolonialstaaten ist die neue Form der internationalen Beziehungen objektiv eine Chance und nicht die Bedrohung als die ihre Herrschaftsspitzen und der Meinungsmainstream diese Entwicklung ansehen.

These 4:

Die Zukunft des Kapitalismus heißt vorerst „mixed economies“

Es gibt nur einen Kapitalismus, keinen guten oder schlechten. Und der muss weg. Hudsons Unterscheidung zwischen parasitärem und produktivem Kapital ähnelt sehr der Nazi-Demagogie, die vom bösen „raffendem“ und guten „schaffendem“ Kapital sprach.

Im Staatskapitalismus nutzen unterschiedliche Oligarchien das kapitalistische System, um sich selbst zu bereichern. Für Sozialisten sind unter solchen Verhältnissen die Kampfbedingungen zur Ergreifung der Staatsmacht und der Etablierung einer sozialistischen Gesellschaft schlechter als in den liberalen, westlichen Demokratien. Deswegen ist der sich mit den Autokratien verbindende Rechtspopulismus so gefährlich. Denn die sozialistische Transformation kann nur durch das weltweite Erstarken einer neuen Klasse in den sozialen und Umweltbewegungen unserer Zeit und deren Machtübernahme erfolgen, nicht von oben über staatskapitalistische Systeme.

Staatskapitalismus ist eingehegter Kapitalismus. Es ist ein großer Unterschied, ob eine mit dem US-Staat verwobene finanzkapitalistische Klasse weltweit das Sagen hat oder ob eine politische Klasse die Finanzoligarchie und die Schlüsselindustrien eines Landes kontrolliert. Damit sind die kapitalistischen Widersprüche nicht aufgehoben und es folgt keineswegs automatisch, dass sich ein Land zum Sozialismus weiterentwickelt bzw. dass sich die herrschende politische Klasse nicht auf Kosten aller anderen Gesellschaftsschichten selbst bereichert und an der Macht berauscht.

Aber wenn die Grundvoraussetzungen geschaffen sind, besteht die Möglichkeit, dass sich eine Gesellschaft in Richtung Sozialismus entwickelt, die Machtfrage ist zumindest teilweise gelöst, in der weiteren Entwicklung sind beide Möglichkeiten angelegt.

Ich sehe so die Chance einer von sozialen Bewegungen begleiteten / getragenen stufenweisen Entwicklung, in der sich allmählich quantitative und dann auch qualitative Veränderungen vollziehen. Dies an Stelle einer radikalen, einmaligen Revolution, die dann eine neue Ökonomie und Gesellschaft von der Pike auf aufbauen müsste, ein Unterfangen, welches mir angesichts des heute schon angesammelten ökonomischen Wissens und entsprechender Erfahrungen unnötig schwierig und disruptiv zu sein scheint.

Was ist überhaupt Sozialismus? Klaus Dörre spricht von der Notwendigkeit utopischen Denkens.

Die sozialistische Utopie wäre eine egalitäre Gesellschaft, die die negativen Auswüchse des Kapitalismus überwindet, und in der die Produzenten bestimmen, was mit den Ergebnissen ihrer Arbeit geschieht. Die Produktion orientiert sich nicht am Tausch-, sondern am Gebrauchswert, die Produktionsverhältnisse dienen der allseitigen Entwicklung der menschlichen Gemeinschaft und der Individuen, die in ihr leben, und es wird alles nur mögliche getan, um das Mensch-Natur-Verhältnis ins Gleichgewicht zu bringen.

Der Weg zum Sozialismus ist keine Utopie, sondern ein Lern- und Entwicklungsprozess, der im Hier und Jetzt beginnt.

Die beschriebenen Gesellschaftsvorstellungen kann ich unterschreiben, habe aber Zweifel, ob das gesellschaftliche Allgemeinwohl allein daraus entstehen kann, dass die Produzenten – von unten – über die Ergebnisse ihrer Arbeit verfügen: das Ganze ist weitaus mehr als die Summe seiner Einzelteile, weswegen ein gesellschaftlicher Planungsprozess aus einer Gesamtperspektive unerlässlich ist, dessen Vorgaben auch gegen den Willen von Einzelinteressen durchgesetzt werden müssen.

These 5:

Die historische Initiative liegt gegenwärtig nicht bei der Arbeiterklasse; trotzdem bleibt sozialistische Politik notwendig

Der Sozialismus steht für Sozialisten jeden Tag auf der Tagesordnung, auch wenn die Mehrheit ihrer Mitmenschen den Sozialismus nicht als Antwort auf ihre drängenden Probleme ansieht.

Sozialisten nehmen an den sozialen Bewegungen ihrer Zeit teil und tragen als geduldige Lehrer*innen dazu bei, dass die Menschen in diesen Bewegungen so stark werden, dass sie irgendwann dazu bereit sind, die herrschende Kapitalistenklasse ablösen zu können. Ohne diesen revolutionären Schritt ist keine sozialistische Transformation möglich. Wann das sein wird, und wie diese neue, bessere Gesellschaft aussehen könnte, bleibt der Zukunft und denjenigen überlassen, die diesen endgültigen Schritt vollziehen.

Der Sozialismus steht für Sozialisten jeden Tag auf der Tagesordnung, auch wenn die Mehrheit ihrer Mitmenschen den Sozialismus nicht als Antwort auf ihre drängenden Probleme ansieht.

Sozialist*innen begreifen sich u.a. auch als Lehrer*innen. Allerdings sehen sie ihre Aufgabe nicht nur in geduldiger Revolutions-Vorbereitung, sondern im täglichen politischen Diskurs und im Aufbau politischen Drucks in Richtung der Behauptung nationaler Souveränität, der Gestaltung einer demokratisch-sozialen, nachhaltigen Volkswirtschaft und partnerschaftlicher, friedlicher internationaler Beziehungen. Die Widersprüche unserer Zeit tragen beides in sich: den Weg in die Barbarei oder den Weg zum Sozialismus, und Sozialisten können in den Grauzonen des Alltags mal mehr und mal weniger die Richtung mit beeinflussen, wenn sie sich nicht ins politische Abseits begeben.

Und wie stellt man nun fest, wer recht hat? ??? Zu aller erst historisch-empirisch: passt die Faktenlage zu den Thesen? Passt die Strategie zur Realität?

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